Von Manfred Bosch
Goethe und Jean Paul zeigten sich von seinen „Alemannischen Gedichten“ berührt, Walter Benjamin und Kafka rühmten seine Prosa, Elias Canetti bekannte, bei ihm in die Schule gegangen zu sein und Kurt Tucholsky empfahl als „Reinigungsbad der Seele viel Hebel (mit einem b)“. Längst ein Klassiker, fehlt es im 250. Geburtsjahr dieses Dichters nicht an einer Vielzahl von Veranstaltungen und Titeln, die entweder schon erschienen oder angekündigt sind.
Der Abschluss der historisch-kritischen Ausgabe in sechzehn Bänden steht freilich noch immer in weiter Ferne. So muss man sich mit den Ausgaben Wilhelm Altweggs (Atlantis, 1943), Wilhelm Zentners (C. F. Müller, 1959-1972) und Eberhard Meckels (Insel, 1968) behelfen – alle drei verdiente Hebelforscher – , die in puncto philologische Genauigkeit jedoch gravierende Mängel aufweisen. Zwar wird seit Ende der 1980er Jahre an den längst überfälligen Sämtlichen Schriften gearbeitet, die nicht zuletzt als Grundlage für künftige Bände und Teileditionen dringend erforderlich wären. Doch die Edition ist in kaum nachvollziehbaren Verzug geraten; den bei C. F. Müller erschienenen drei Bänden (Erzählungen und Aufsätze I und II, Biblische Geschichten) folgte jedenfalls zwei Jahrzehnte lang kein weiterer. Nun sollen im Gedenkjahr endlich unter der erweiterten Herausgeberschaft von Adrian Braunbehrens, Gustav Adolf Benrath und Peter Pfaff im neuen Verlag Stroemfeld wenigstens zwei neue Bände (Predigten; Predigtentwürfe) herauskommen.
Unterdessen wird in Karlsruhe von Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann an einer dreibändigen volkstümlichen Ausgabe gearbeitet, die für Ende 2010 bei Hoffmann & Campe angekündigt ist. Sie wird viele unveröffentlichte Texte aus bislang unterbewerteten Werkteilen enthalten, darunter die Exzerpthefte. Quasi als Vorgriff darauf erschien unter dem Titel Glück und Verstand. Minutenlektüren ein schmaler Band, der mit seiner Auswahl an Erzählungen, Gedichten, Briefen, Predigten und Notaten etwas von der Breite des Hebelschen Werks, dessen Facettenreichtum und Aktualität anzudeuten vermag.
Wenn sich die literarische Welt Hebels erinnert, stehen die Erzählungen des „Rheinischen Hausfreunds“ stets ganz vorn. Hatten der Fischer-Taschenbuchverlag und Diogenes bereits 2008 beziehungsweise 2009 Neuausgaben herausgebracht, legten Manesse in seiner Bibliothek der Weltliteratur ein von Werner Weber kommentiertes und mit Illustrationen des 19. Jahrhunderts geschmücktes Bändchen und dtv jüngst die Hanser-Ausgabe der Kalendergeschichten von 1999 wieder auf. Neben den rund dreihundert Texten, die Hebel für den Badischen Landkalender (ab 1808 Der Rheinländische Hausfreund) schrieb, enthält dieser Band einen Anhang mit Nachwort von Hannelore Schlaffer, Dokumenten und umfangreichem Sachkommentar. Auf rund ein Drittel des Gesamtbestandes hat sich Hermann Bausinger in seiner Auswahl der Kalendergeschichten beschränkt, die als Band 2 im Rahmen der „Kleinen Landesbibliothek“ bei Klöpfer & Meyer erschienen ist. Als „Freund des Hausfreunds“ hat Bausinger die Beiträge in eine sachliche Ordnung gebracht, ohne das „vergnügliche Durcheinander“, das zu einem Kalender gehört, gänzlich aufzugeben. So kommt hier, in einer Mischedition aus „Schatzkästlein“ und späteren Kalenderbeiträgen, jene „bunte Reihenfolge“ zustande, die Bausinger mit einer Art „frühen Zappens“ vergleicht – schließlich habe man nicht den Kalender, sondern im Kalender gelesen. Er bietet eine neue wohlfeile Ausgabe des alten Klassikers in neuer Wertung.
Dass der Kalender-Gedanke auch heute noch als Strukturelement für Hebel-Titel taugt, belegen zwei Neuerscheinungen der beiden maßgeblichen Hebel-Organisationen. Der Hebelbund Lörrach hat Mit Johann Peter Hebel durchs Jahr eine Sammlung wieder aufgelegt, die schon 1990 im Verlag der Evangelischen Landeskirche erschien und Texte für jeden Tag des Jahres bietet. Man merkt dem Band diese Herkunft an, weil Theologisches, das heißt Hebels „Predigten“ und die „Biblischen Geschichten“ darin leicht dominiert. Mit den säuerlichen Losungen à la Herrnhuter Brüdergemeinde hat der Band gleichwohl nichts gemein – davor bewahrt ihn schon Hebels kirchenferne Moral. Wie hatte der Freund Christoph Friedrich Kölle den Dichter in einem Nachruf charakterisiert? „Den Geistlichen zeigte er nie zur Unzeit“.
Die Basler Hebelstiftung dagegen suchte einen explizit heutigen Zugang für ihren Band Kalendergeschichten in Comics und Illustrationen, für den sie in der Luzerner Hochschule Design & Kunst einen kooperierenden Partner fand: Studierende einer Abschlussklasse wählten zwölf Kalendergeschichten als Monatstexte zur Illustration aus – mit der einzigen Vorgabe, den Text gestalterisch in die Gegenwart zu übersetzen. Die Spannweite ist bereits im Titel des Bandes angedeutet und bezieht weniger bekannte Geschichten ebenso ein wie „Unverhofftes Wiedersehen“ oder „Kannitverstan“. Ein innovativer Dialog nicht nur über Epochen, sondern auch über Sparten hinweg; Hommage und Versuch, junge Leser auf Hebel hinzuweisen, in einem.
Einen Dialog anderer Art unternimmt Ulrike Draesner mit ihren Kästchengeschichten. Von den Verlegern der Libelle zu einer Begegnung mit den Kalendergeschichten animiert, hat sie dreißig von ihnen – „die spannendsten, widersprüchlichsten und berührendsten“ – ausgewählt, um ihre ganz eigene Sichtweise an ihnen zu demonstrieren: „Von Beginn [des Schatzkästleins, das mit Himmelskunde beginnt, M. B.] an zeigt Hebel, dass die Erde selbst ein rotierendes Kistchen ist, wenn auch sehr rund. Selbst 400 Jahre nach Kopernikus weiß das noch nicht jeder. Ein rundes Behältnis, das sich nicht im konventionellen Sinn öffnen lässt. Die Menschen kleben außen daran, zwischen Krume und Firmament […]. Dort, im Zwischenraum, sind sie ge- und enthalten, ‚Weltgebäude’ nennt Hebel ihr Haus. Es ist zugänglich und verschlossen zugleich, kennt Nischen, Winkel, Geheimnisse. Öffnen lässt es sich, indem man erzählt“ (Aus dem Vorwort). Auch Draesner hält sich – in einer Mischung aus eigenem Fabulieren, Fragen an den Text und literaturhistorischen Einschüben – ans Erzählen und setzt so, den Kalender als „Tagbehältnis“ verstehend, Hebels Erzählkosmos reflektierend und assoziierend in Beziehung zur Gegenwart. Text und „Para-Text“ erhellen sich auf diese Weise gegenseitig, und es hat einen eigenen Reiz, den Lesevorgang einmal umzukehren und Hebels Geschichten als „Antwort“ auf Draesners „dekompositorische“ Methode zu lesen.
Der Schuster Flink lautet der Titel eines Bändchens mit zwei Dutzend anonym publizierter Texte, die in Hebelscher Manier von unerhörten Begebenheiten, Unglücken und wundersamen Zwischenfällen erzählen. Der Literaturwissenschaftler Heinz Härtl, der sie aus vergessenen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts ausgegraben hat, erklärte sie aufgrund von Indizienbeweisen zu Arbeiten Hebels, um sie, von einem schönen Vorwort Daniel Kehlmanns assistiert, als „beglückenden Fund“, gar als „Sensation“ zu preisen. Gern stimmte man dem zu – wenn auch nicht alle Stücke auf der Höhe von Hebels Erzählkunst sind; freilich haben Härtls Zuschreibungen unter Hebel-Kennern Zweifel und regen Widerspruch ausgelöst. Falls aber nur ein Hebel-Nachahmer am Werk gewesen wäre, so dürfte man ihm in seinen besten Stücken Gelehrigkeit nicht absprechen. Der Hausfreund selber schweigt dazu.
Anders als der Erzähler, Lyriker und Briefeschreiber, ist der theologische Autor und Prediger weniger im allgemeinen Bewusstsein, obschon Hebel in der Kirchenleitung des Großherzogtums Baden zu höchsten Funktionen aufstieg. Der Theologe verstand sich indes nicht zugleich auch als Dichter, und so bleiben die Predigten um vieles hinter den Kalendertexten zurück, freilich nur in literarischer Hinsicht: Mit Blick auf sein Denken sind sie so unverzichtbar wie für das Bild seiner Persönlichkeit insgesamt. Da andere theologische Werke Hebels derzeit nicht greifbar sind, verdient eine Neuauflage seiner Predigten deshalb umso größeres Interesse. Sie erscheinen, herausgegeben von Thomas Kuhn und Hans-Jürgen Schmidt, unter dem Titel Die Morgenröthe der Aufklärung, die Milderung der Sitten, der den theologischen Rationalismus Hebels stimmig hervorkehrt: Vernunft und Glauben stehen sich bei Hebel nicht im Wege; Selbstverantwortung und Sittlichkeit fallen bei ihm eins.
Die in den letzten Jahren so sehr in Mode gekommene literarische Topografie macht auch vor Hebel nicht Halt. Zusammen mit Hansgeorg Schmidt-Bergmann hat Franz Littmann unter dem Titel Johann Peter Hebel in Baden einen Literaturführer erarbeitet, der seine Lebens- und Wirkungsorte, Denkmäler und Gedenkstätten verzeichnet und beschreibt. Mit Hebel von Ort zu Ort – gleiche Bände liegen schon zu Schiller und Mörike vor – heißt ein Band von Wilfried Setzler, der ebenfalls Hebels Lebensspuren folgt; Helen Liebendörfer unternimmt einen Basler Spaziergang mit Johann Peter Hebel und für den Sommer ist in der Reihe „Spuren“ das Heft Johann Peter Hebel und der Belchen angekündigt. Autor ist Thomas Schmidt, Leiter der Marbacher Arbeitsstelle für literarische Museen, Gedenkstätten und Archive in Baden-Württemberg, der das Hebel-Museum in Hausen einrichtet.
Zu den Neuerscheinungen zählen auch zwei nach Anlage und Darstellung recht verschiedene Biografien. Nach vorangegangenen Büchern zu Hebel (darunter Handorakel der Lebenskunst. Die Alemannischen Gedichte von J. P. Hebel, 2003) legt Franz Littmann mit Johann Peter Hebel. Humanität und Lebensklugheit für jedermann eine an den Lebensstationen orientierte Einführung in Leben und Werk vor. Die Darstellung richtet sich in ihrer leichten Fasslichkeit und mit ihren narrativen Anleihen sichtlich an einen breiten Leserkreis und stellt sich ganz dicht hinter ihren Gegenstand. Besonderes Augenmerk legt Littmann auf Hebels aufklärerisches Schreibkonzept, das sich stets auf die Seite des Lesers schlägt, ihn zum Selberdenken anstiftet und alles Beharren auf dogmatischen und ausschließlichen Ansprüchen unterläuft. Zurecht urteilt Littmann über Hebels „federnde Moral“ (Hartmut von Hentig): „Bis heute wurde dieser von den Hauptströmungen des abendländischen Denkens abweichende Aspekt bei Hebel nur unzureichend erkannt […]. Von weither kommend – von den Stoikern – sprach seine Weisheitsvermittlung den Einzelnen in seiner Freiheit und Verantwortlichkeit an. Dem Privileg einer Kirche auf Alleinseligmachung setzte er das Individuum als Sinnzentrum entgegen“.
Im Gegensatz zu Littmanns konventionellem biografischen Zugang stellt Heide Helwigs Johann Peter Hebel den Typus einer „intellektuellen Biografie“ dar. Ihr Buch, das sich weder starr an die Chronologie hält noch Hebels Leben kontinuierlich referiert, verortet den Dichter und Kirchenmann in den geistigen und politischen Strömungen von Aufklärung und Französischer Revolution, Restauration und Liberalismus. Helwig erzählt in acht Kapiteln vom Bildungsweg und Werden eines Genies im Abseits, das die alemannische Sprache klassisch machte und als Erzähler für eine Ökonomie des Kleinen stand, dem das Unscheinbare spektakulär genug war; sie widmet sich den enzyklopädischen naturgeschichtlichen Interessen des Aufklärers, würdigt den menschenfreundlichen Pragmatismus des Pädagogen und Prälaten, stellt den Charakter Hebels mit seinem Hang zu sanfter Anarchie und subversiver List heraus, ohne die Wirkung seiner Person und Dichtung auf Mit- und Nachwelt zu vergessen. Der gleichförmigen Biografie Hebels, der über den angestammten Lebenskreis nie hinauskam, weiß Helwig durch stilsichere Feinzeichnung seines Charakters, durch Zeitkolorit, ein sicheres Gespür für passende Zitate und Anekdoten sowie durch genaues Aufschlüsseln herangezogener Texte Leben einzuhauchen und so der Komplexität ihres Themas gerecht zu werden. Dabei wahrt sie nicht nur Distanz zu ihrem Gegenstand, sondern sieht Hebel bei aller grundsätzlichen Sympathie auch durchaus kritisch – etwa in seiner Unbeherztheit gegenüber Frauen. Hier hat ein Stoff seine Autorin gefunden.
Zum Weiterlesen:
Jan Knopf, Franz Littmann, Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Hebel. Werke in drei Bänden. Hoffmann & Campe, Hamburg (Ende 2010)
Johann Peter Hebel, Glück und Verstand. Minutenlektüren. Hrsg. von Hansgeorg Schmidt-Bergmann und Franz Littmann. Hoffmann & Campe, Hamburg 2009. 128 Seiten, 10 Euro
Johann Peter Hebel, Die Kalendergeschichten. Sämtliche Erzählungen aus dem Rheinischen Hausfreund. Hrsg. von Hannelore Schlaffer und Harald Zils. dtv, München 2010. 847 Seiten, 14,90 Euro
Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds. Hrsg. von Werner Weber mit Illustrationen von 1846. Manesse Verlag, München 2010. 288 Seiten, 19,95 Euro
Johann Peter Hebel, Kalendergeschichten. Hrsg. von Hermann Bausinger. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2009. 288 S., 14 Euro
Peter Grathwohl und Hebelbund Lörrach (Hrsg.), Mit Johann Peter Hebel durchs Jahr. Waldemar Lutz, Lörrach 2010. 398 Seiten, 18 Euro
Johann Peter Hebel, Kalendergeschichten in Comics und Illustrationen. Hrsg. Basler Hebelstiftung. Schwabe, Basel 2010. 64 Seiten, 17,50 Euro
Johann Peter Hebel, Kästchengeschichten. Ausgewählt, neu gelesen und literarisch beleuchtet von Ulrike Draesner. Verlag Libelle, Lengwil 2009. 140 Seiten, 16,90 Euro
Johann Peter Hebel, Der Schuster Flink. Unbekannte Geschichten. Hrsg. von Heinz Härtl, Vorwort von Daniel Kehlmann. Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 92 Seiten, 18 Euro
Johann Peter Hebel, Predigten. „Die Morgenröthe der Aufklärung, die Milderung der Sitten“. Hrsg. von Thomas Kuhn und Hans-Jürgen Schmidt. Schwabe, Basel 2010. 390 Seiten, 39,50 Euro
Franz Littmann, Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Johann Peter Hebel in Baden. Ein Literaturführer. Braun, Karlsruhe. 100 Seiten, 12,90 Euro
Wilfried Setzler, Mit Hebel von Ort zu Ort. Silberburg Verlag, Tübingen 2010. 200 Seiten, 22, 90 Euro
Helen Liebendörfer, Spaziergang mit Johann Peter Hebel. Reinhardt, Basel 2010. 84 Seiten, 13,50 Euro
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Franz Littmann, Johann Peter Hebel, Humanität und Lebensklugheit für jedermann. Sutton-Verlag, Erfurt 2008. 128 Seiten, 14,90 Euro
Heide Helwig, Johann Peter Hebel. Biographie. C. Hanser, München 2010. 368 Seiten, 24,90 Euro
Manfred Bosch, Jahrgang 1947, lebt als Schriftsteller in Konstanz. Er ist Herausgeber und Autor zahlreicher Bücher zur Zeit- und Literaturgeschichte des deutschen Südwestens, etwa der Bohéme am Bodensee. Eben erschien die von ihm herausgegebene Anthologie Oberrheingeschichten bei Klöpfer & Meyer.