Von Elke Linda Buchholz
Eine Stadt wie Rom hat die hinreißende Eigenschaft, die zugleich ein unerschöpflicher Frustrationsquell ist: Sie widersetzt sich erfolgreich allen Versuchen, sie zu erfassen, zu ergründen, womöglich zu verstehen. Schon sich in ihr zu orientieren und im Mit- und Nebeneinander der sich überlagernden Zeitschichten den Überblick zu gewinnen, erfordert Entschlossenheit, Geduld und wache Sinne. Wer sich mit Rom befasst, wird nie damit fertig werden. In den Tagen und Wochen der Reisevorbereitung türmen sich Führer, Bildbände und Karten, Neuerscheinungen schichten sich auf angegraute Bücher aus der Bibliothek.
Ohne Begleiter – in persona oder in Buchform – begibt sich niemand nach Rom. Schon Goethe hatte sich intensiv vorbereitet, denn eine Romreise galt damals als Höhepunkt einer künstlerisch-intellektuellen Bildungslaufbahn. Sigmund Freud, ein großer Kenner der Stadt, sah in ihr gar ein Modell der menschlichen Psyche mit ihren aufeinandergeschichteten Erfahrungsspuren.
Der älteste Stadtplan von Rom ist zugleich eine der frühesten urbanen Karten überhaupt und stammt aus der Zeit des Kaisers Septimius Severus im 3. Jahrhundert nach Christus. Die "Forma Urbis Romae" war so groß wie ein Haus in Stein graviert und an der Innenwand eines Tempels angebracht. Noch auf ihren zerbrochenen Überresten lassen sich die Grundrisse des Circus Maximus und anderer wichtiger Bauwerke bis heute getreu ablesen – die Forscher puzzeln daran. Ähnlich wie heutige Touristen standen schon die Rompilger des Mittelalters vor dem Problem, sich vor Ort zurecht zu finden und die – in ihrem Fall christlichen – „Hotspots“ anzusteuern. In einem "Itinerarium", einer Wegbeschreibung aus dem Kloster Einsiedeln, ersann ein Mönch des 9. Jahrhunderts ein einfaches, aber effizientes System. Er machte den Falz in der Mitte der aufgeschlagenen Doppelseite seines Notizbuches zum Weg; die Bauten, die er beim Durchwandern der Stadt zu seiner Linken sah, notierte er auf der linken Buchseite, die Bauten zur Rechten auf der anderen Seite. Triumphbögen, die er durchschritt, wurden mittig eingetragen.
Später rangen Mathematiker und Künstler der Renaissance um die "richtige" Wiedergabe der ewigen Stadt. Heute fahren Kamerawagen im Auftrag von GoogleMaps Straße um Straße ab, um den Stadtraum flächendeckend fürs World Wide Web zu filmen. Anhand solcher Beispiele schildern die Kunstwissenschaftler Steffen Bogen und Felix Thürlemann in ihrem reich bebilderten, wissenschaftlich präzisen Buch Rom – eine Stadt in Karten von der Antike bis heute die Geschichte der römischen Kartografie und erzählen zugleich, wie sich die Wahrnehmung der Stadt durch die Jahrhunderte wandelte. Das neueste Kartenmaterial entsteht kollektiv: Die OpenStreetMap der Wiki-Community im Internet wächst, indem unzählige Hobbykartografen mit ihren GPS-Navigationsgeräten die Welt durchlaufen und ihre Daten eingeben. Der seit 2005 erstellte Stadtplan ist bereits erstaunlich präzise. Das Projekt zeigt: Eine Karte ist nichts Statisches, sondern reflektiert die Bewegung der Menschen in Zeit und Raum.
In Rom ist die aktuelle Stadt nur eine Seite der Medaille, die andere ist der antike Stadtkörper, der zwischen verkehrsumtosten Hauptstraßen immer wieder an die Oberfläche tritt und sich in der Gegenwart behauptet. "Gestehen wir jedoch, es ist ein saures und trauriges Geschäft, das alte Rom aus dem neuen herauszuklauben, aber man muss es denn doch tun und zuletzt eine unschätzbare Befriedigung hoffen", meinte Goethe. Zu seiner Zeit war vieles, was wir heute besichtigen, noch längst nicht ausgegraben, doch schon damals gab es zwei sich ergänzende Arten von Rom-Stadtplänen, eine des gegenwärtigen Rom und eine der antiken Stadt. Beide veränderten sich im Laufe der Zeit, die eine durch Neubauten und neu angelegte Straßenzüge, die andere durch Grabungsfunde und Forschungsergebnisse. Eine anschauliche Vorstellung vom antiken Rom gibt das riesige Stadtmodell im Museo della Civiltà Romana. Um es zu sehen, muss man in das von Mussolini errichtete Viertel EUR ("Esposizione Universale di Roma") hinausfahren. Der Duce inszenierte sich mit Pomp als Erbe der ruhmreichen Antike und veranstaltete unter Hochdruck Ausgrabungen, die etwa die antike Hafenstadt Ostia vor den Toren Roms ans Licht brachten. Solche Bezüge zeigt der handliche Reclam-Städteführer Rom auf. Allerdings überzeugt das gelbe Büchlein ansonsten weder durch Übersichtlichkeit noch durch sprachliche Brillanz oder praktischen Gebrauchswert.
Um das antike Rom ins Visier zu nehmen, empfehlen sich neuerdings gleich mehrere Bücher im Stil eines Zeitreise-Stadtführers. Sie tun so, als spaziere man tatsächlich durch die antike Stadt. Das Taschenbuch Rom für 5 Denar am Tag des Antike-Fans und Althistorikers Philip Matyszak schildert vor allem das Alltagsleben, während Ganz Rom in 7 Tagen von dem Altphilologen und Schuldirektor Karl-Wilhelm Weeber den Schwerpunkt auf die Bauten Roms legt. Beide sind locker und ohne höheren literarischen Anspruch geschrieben, streuen Zitate von Zeitzeugen wie Juvenal oder Seneca ein und spicken ihren flotten Jargon mit lateinischen Lehnwörtern von "Horrortrip" bis "Sozialleistungen". Ein Vergnügen mehr für Kenner der Materie ist der soeben erschienene Reiseführer in die Welt der Antike – Das Alte Rom des britischen Archäologieprofessors Ray Laurence. Das liebevoll altmodisch aufgemachte und illustrierte Büchlein aus dem Theiss-Verlag nimmt das Jahr 300 n. Chr. als Stichdatum zum Einstieg ins alte Rom. Aber wenn es heißt: "Verlassen Sie Rom gleich hinter dem Pons Milvius auf der Via Cassia und fahren Sie an Baccanas vorbei nach Sutrium", dann verliert man als Nichtkenner doch leicht die Orientierung. Zumal der Autor allzu wenig Rücksicht darauf nimmt, was von den beschriebenen Sehenswürdigkeiten heute überhaupt noch steht. Aber man kann sich ja mit Hilfe des lateinischen Minisprachführers am Ende vor Ort durchfragen: "Ubi est amphiteatrum, quaeso?" ("Wo bitte ist das Amphitheater?")
"Ich habe versucht, das Buch zu schreiben, das ich in den Buchhandlungen immer vergeblich gesucht habe, um meine Neugier auf das antike Rom zu befriedigen," schreibt der römische Fernsehjournalist Alberto Angela. Der Paläontologie und Autor populärer Wissenssendungen packt den Leser in seinem Buch Ein Tag im antiken Rom bei seiner alltäglichen Neugier: Wie wickelt man eine Toga, die quasi "Anzug und Krawatte" der alten Römer war? Was verraten die Graffiti an den Hauswänden über den Bildungsstand der antiken Bevölkerung? Der Autor begutachtet die Latrinen Roms, begegnet Tacitus in einer Buchhandlung und entdeckt überraschende Parallelen zum heutigen Alltag, vom typischen Grundriss einer Mietswohnung bis zum römischen Verkehrschaos.
Das Gespräch über die Stadt Rom ist seit der Antike nie abgerissen: Schon der mythische Trojanerfürst Aeneas ließ sich bei einem Spaziergang vom Kapitol zum Palatin von seinem Gastgeber, dem Fürsten Euander, die Bauten am Rande des Weges erklären. "Staunend", so berichtet Vergil, "lässt Aeneas behend allum seine Blicke schweifen, die Gegend lockt ihn, und freudig fragt er genau dem Einzelnen nach und erfährt denkwürdige Taten der Vorzeit." Hanns-Josef Ortheil erzählt dies in seinem Bändchen Rom: Eine Ekstase. Darin durchstreift der bekennende Rom-Liebhaber die Stadt ganz nach Lust und Laune. Mal heftet er sich an die Fersen von Filippo Miller, alias Goethe, mal schaut er dem antiken Kochbuchautor Apicius in den Topf, mal schickt er einen fiktiven Flaneur auf Stadterkundung, immer den verfeinertsten Genüssen nach. Das von Touristen überfüllte Pantheon lässt er betont desinteressiert links liegen, um sich lieber römischen Wein- und Käsespezialitäten zu widmen. Rezepte laden zum Nachkochen ein. Doch Ortheils Pasticcio wirkt teilweise allzu eitel und kulinarisch aufgebrezelt.
Weniger selbstverliebt, dafür umso erhellender liest sich Birgit Haustedts Literarischer Reisebegleiter Rom aus dem Insel-Taschenbuchverlag, der dem Buch – und das ist unverzeihlich – kein Register gegönnt hat. Die Herausgeberin reiht feine Miniaturen über einzelne Kirchen, Straßen oder Statuen zu fünfzehn Spaziergängen, immer in Begleitung literarischer Gewährsleute, aber auch mit eigenem kritischen und wachen Blick. Während Fontane genervt von der Überfülle christlicher Ikonographie die Kirche Santa Maria Maggiore verließ, versuchte sich Sigmund Freud als Kunstinterpret vor Michelangelos Moses. Die beiden Eigenbrötler Thomas und Heinrich Mann nisteten sich unweit des Pantheons in einer kargen Wohnung ein und gingen nur zu den Mahlzeiten aus. Und Ingeborg Bachmann meinte: "Ich möchte alle Autos einzeln hochheben und in den Tiber versenken." Was Charles Dickens, Karl Philipp Moritz, Harry Mulisch, Stendhal oder Gregorovius schilderten, nutzt Hauschild, um unseren Blick zu schärfen und gegen stereotype Sichtweisen zu immunisieren. Ein wunderbares Buch, das neugierig macht auf viele noch ungelesene Rom-Texte, -Romane und -Erzählungen.
Wer sich dem Römer Marco Lodoli anschließt, kommt in den Genuss von erfrischend unmittelbaren und zugleich poetischen Miniaturen. Seine kunstvoll verschlungenen Sätze haben bei den Übersetzern sicher für so manchen Stoßseufzer gesorgt. Man staunt, dass solche Prosa heutzutage noch in einer Tageszeitung ihren Platz haben kann, doch Lodolis Kolumnen sind zuerst in La Repubblica erschienen. Das zweite Auswahlbändchen liegt nun auch als deutsches Taschenbuch vor. Man muss die manchmal recht abgelegenen Schauplätze der Spaziergänge in Rom gar nicht gleich selbst aufsuchen, schon über sie zu lesen, versetzt einen in genau die richtige, entspannt-neugierige Geistesverfassung, um auf eigene Faust eine Entdeckungstour zu unternehmen.
Denn das ist schließlich der Sinn jedes Rom-Städteführers, wie schon Karl Baedeker erkannte. Sein unübertroffen detailscharfes Reisehandbuch Mittelitalien und Rom hatte bereits 1866 die Absicht, dem Reisenden "behülflich zu sein, auf eigenen Füßen zu stehen, ihn frei zu machen, und ihn so zu befähigen, mit frischem Herzen und offenen Augen alle Eindrücke in sich aufzunehmen."
Zum Weiterlesen:
Steffen Bogen und Felix Thürlemann, Rom – Eine Stadt in Karten von der Antike bis heute. Primus Verlag, Darmstadt 2009, 232 Seiten, 39,90 Euro
Christoph Höcker, Reclams Städteführer Kunst und Architektur Rom. Stuttgart 2008. 307 Seiten, 7,80 Euro
Philip Matyszak, Rom für 5 Denar am Tag. Ein Reiseführer in die Antike. Sanssouci Verlag , München 2008. 176 Seiten, 14,90 Euro
Karl-Wilhelm Weeber, Ganz Rom in 7 Tagen. Ein Zeitreiseführer in die Antike. Primus Verlag, Darmstadt 2008. 176 Seiten, 16,90 Euro
Ray Laurence, Reiseführer in die Welt der Antike: Das Alte Rom. Rom und Umgebung im Jahre 300 n. Chr. Theiss, Stuttgart 2010. 160 Seiten, 16,90 Euro
Alberto Angela, Ein Tag im Alten Rom. Alltägliche, geheimnisvolle und verblüffende Tatsachen. Riemann, München 2009. 416 Seiten, 19 Euro
Hanns-Josef Ortheil, Rom: Eine Ekstase. Sanssouci Verlag, München 2009. 157 Seiten, 14,90 Euro
Birgit Haustedt, Rom. Ein Reisebegleiter. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2008. 200 Seiten, 12 Euro
Marco Lodoli, Spaziergänge in Rom. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2009, 102 Seiten, 6 Euro
Hilfreich für die Vorbereitung jeder Romreise und voller aktueller Tipps ist die private Website: www.roma-antiqua.de
Elke Linda Buchholz, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet als freie Autorin, Journalistin und Kunsthistorikerin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr zusammen mit Michael Bienert Stille Winkel in Potsdam bei Ellert & Richter.