Geschichte schreiben, Geschichten erzählen

Die amerikanische Historikerin Natalie Zemon Davis geht den Lebenswegen von Frauen, Buchdruckern, kleinen Leuten und Wanderern zwischen den Welten nach, zuletzt dem des Renaissance-Autors Leo Africanus.

 

Von Elke Linda Buchholz

 

Ernst und melancholisch blickt der bärtige junge Mann aus dem Bild. Er trägt die schwarze Robe eines Gelehrten, griffbereit stehen neben ihm farbig gebundene Bücher, Schreibzeug und ein Globus mit blau leuchtenden Meeresflächen. Wer ist dieser Intellektuelle mit dem schmalen, blassen Gesicht, den der italienische Maler Sebastiano del Piombo um 1519/20 im päpstlichen Rom porträtierte und dessen Bildnis heute in der Washingtoner National Gallery hängt?

 

Dem Orientalisten Dietrich Rauchenberger, der lange Jahre als Diplomat in Marokko und Tunesien verbracht hatte, fiel vor allem der dunkle Vollbart des Dargestellten ins Auge, ein damals bei jungen Römern eher unübliches Merkmal. Der Forscher hatte eine Eingebung: Könnte dies nicht der islamische Autor und Geograf al-Hasan al-Wazzan sein, in Europa bekannter als Leo Africanus? Geschichtsschreibung ist immer auch Spekulation: Wäre, könnte, vielleicht, wahrscheinlich, möglicherweise – der Konjunktiv gehört zum unverzichtbaren Instrumentarium der historischen Zunft. Wie es wirklich war, lässt sich aus dem Abstand der Jahrhunderte, ja schon nach wenigen Jahren und Jahrzehnten oft nicht mehr genau sagen. Sich dem Einst anzunähern, es den Quellen mit Präzision und Geduld abzutrotzen, mit Phantasie und Einfühlungsvermögen nachzuformen, macht die Kunst historischer Forschung aus. Der melancholische Blick des jungen Gelehrten bleibt im Gedächtnis haften – und mit ihm die Frage nach seiner Identität. Wer den Faden aufnimmt und dem von Rauchenberger in die Diskussion geworfenen Namen Leo Africanus nachspürt, gerät ins Gestrüpp der Geschichte und Überlieferung, der Literatur und Legenden. Und stößt auf die amerikanische Historikerin Natalie Zemon Davis.

 

In der Berliner Staatsbibliothek stellte sie die bei Wagenbach erschienene Übersetzung ihres neuen Buches vor: Trickster Travels hat sie es in der amerikanischen Originalausgabe genannt. Ein „trickster“, ein schlitzohriger Täuscher, war al-Hasan al-Wazzan alias Leo Africanus, der historische Held ihrer fast 400 Seiten starken, ungemein detailreichen Schilderung zweifellos, und ein Reisender zwischen den Welten des Islam und des Christentums, zwischen den Kulturen Europas und Afrikas.

Lebhaft gestikulierend, mit offenem, freundlichem Lächeln und wach blitzenden Augen erzählte Natalie Zemon Davis, was sie an der Figur des Leo Africanus reizte, den sie lieber bei seinem islamischen Namen nennt, denn diesen führte er die längste Zeit seines Lebens. Dass die Wissenschaftlerin bereits ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert hat, sieht man der quirligen Dame mit dem kurz geschnittenen Haar und dem eng anliegenden lila Kleid nicht an. Sie gilt als Grande Dame der neueren Geschichtswissenschaft und Pionierin der interdisziplinären Kulturwissenschaft. Das Bildnis Sebastiano del Piombos ist ihr nur eine Fußnote wert, weil nichts ihrer Ansicht nach auf eine muslimische Abstammung des Dargestellten hindeutet. Schade, denn somit bleiben wir weiterhin auf unsere Phantasie angewiesen. um uns al-Hasan al-Wazzan vorzustellen. Natalie Zemon Davis interessiert sich vor allem für seine kulturelle Identität, genauer: seine multiplen Identitäten.

 

Um 1486/88 oder einige Jahre später im muslimischen Granada geboren, wuchs er in Fes in Marokko auf, reiste schon als junger Mann in diplomatischer und geschäftlicher Mission quer durch den afrikanischen Kontinent und gelangte als Gesandter an den Hof des Sultans von Istanbul. 1518 fiel er im Mittelmeer christlichen Piraten in die Hände, die den Diplomaten an den Renaissance-Papst Leo X. auslieferten. Monatelang saß al-Hasan al-Wazzan in der Engelsburg gefangen, bevor er sich entschloss, zum Christentum zu konvertieren, und sich vom Papst persönlich taufen ließ. Während seiner Haft hatte er Latein und Italienisch gelernt und Schriften aus der vatikanischen Bibliothek studiert, nun entfaltete er in Italien eine rege intellektuelle Tätigkeit. In Kooperation mit einem jüdischen Gelehrten erstellte er in Bologna ein mehrsprachiges Wörterbuch in Arabisch, Hebräisch, Lateinisch und Spanisch, gleichzeitig setzte er sich an die Niederschrift eines Werkes, das ihn postum berühmt machen sollte: eine Beschreibung des afrikanischen Kontinents, von dem man in Europa damals kaum mehr kannte als den ungefähren Verlauf der Küstenlinie. Lebendig und aus eigener Anschauung schildert der weitgereiste Autor die Waren auf den Märkten der Wüstenoasen, das Gebaren der Handelskarawanen, die Pflanzen- und Tierwelt, die politischen Verhältnisse und Sitten im Inneren Afrikas. 1550 ging das über 900 Seiten umfassende Manuskript unter dem Titel Descrizione dell’Affrica in Venedig in den Druck und erlebte – dem neu erfundenen Buchdruck sei Dank – innerhalb weniger Jahrzehnte europaweite Verbreitung und Übersetzungen in mehrere Sprachen. Auf Deutsch erschien es erst im 19. Jahrhundert, bis heute liegt nur ein Teil der italienisch abgefassten Handschrift in einer kritischen Übersetzung vor.

Nach 1530 verliert sich die Spur des Leo Africanus: Kehrte er nach Tunis und zum Islam zurück? Kam er beim Sacco di Roma, der Plünderung Roms durch Söldner Karls V., ums Leben? Weder in Italien noch in Nordafrika finden sich Zeugnisse seiner Anwesenheit.

 

„Mein Porträt ist das eines Mannes mit einer doppelten Perspektive, der zwei kulturellen Welten angehört, sich bisweilen zwei Zuhörer vorstellte, Techniken aus dem arabischen und islamischen Repertoire anwendet und gleichzeitig auf ganz eigene Weise europäische Elemente daruntermischt“, meint Natalie Zemon Davis. Schon allein in seinen vielen Namen spiegeln sich die kulturellen Grenzgänge dieser historischen Ausnahmegestalt. Al-Hasan ibn Muhammad ibn Ahmad al-Wazzan al-Gharnati al-Fassi nannte er sich mit vollem Namen: al-Hasan, Sohn des Muhammad, des Sohnes des Ahmad, des Eichmeisters, aus Granada, aus Fes. Als Papst Leo X. den Andalusier taufte, verlieh er ihm seinen eigenen Namen: Giovanni Leo de Medici. Sechs Jahre später setzte der Autor unter sein Manuskript der Beschreibung Afrikas den Namen Joan Lione Granatino, zu deutsch: Johann der Löwe aus Granada. Auf arabisch nannte er sich nach seinem Übertritt zum Christentum Yuhanna al-Asad, Yuhanna der Löwe.

Seine wandelbare Identität hat der Autor selbst auf bildhafte Weise in eine Fabel gefasst. In seinem Afrikabuch erzählt er von einem Vogel, der sowohl an Land wie im Wasser leben konnte. Als der König der Vögel von ihm Steuern eintreiben wollte, tauchte er flugs ins Wasser ab und gab sich als Fisch aus. Als jedoch der König der Fische dort die Steuern erhob, flatterte er wieder empor in die Lüfte zu den Vögeln. „Ich werde es machen wie der Vogel“, schreibt Leo Africanus. Ob al-Wazzan in seinem Innersten dem Islam also jemals wirklich abschwor? Natalie Zemon Davis verweist auf die Praxis der „taqiya“, die Verheimlichung des eigenen Glaubens, die der Koran ausdrücklich unter erzwungenen Umständen erlaubt.

 

Jeder noch so dünnen Spur geht die Forscherin nach, sämtliche Möglichkeiten durchdenkt sie, um die Person, die Denkweise und Erfahrungswelt ihres Protagonisten auszuloten. Wo die Quellen über ihn selbst schweigen, steckt sie mit dem ihr eigenen Scharfsinn so präzise wie möglich sein Umfeld ab. „Wenn ich Briefe etwa eines Schirmherren las, für den al-Wazzan ein Manuskript vorbereitet hatte, hielt ich den Atem an vor Spannung, auf seinen Namen zu stoßen, und schloss die Akte enttäuscht, wenn ich ihn nicht fand.“ Ihr dabei zu folgen, fordert dem Leser eine Menge Geduld und die Bereitschaft ab, sich auf das Terrain nordafrikanischer und islamischer Geistes- und Sozialgeschichte einzulassen. Wer die abenteuerliche Vita des Leo Africanus lieber als farbenprächtigen Roman verschlingen möchte, sollte zu dem 1986 erschienenen Buch des im Libanon geborenen Autors Amin Maalouf greifen, der dem Protagonisten international zu neuer Popularität verhalf.

 

Eine Figur wie Leo Africanus hätte Natalie Zemon Davis, wie sie offen zugibt, früher kaum interessiert. Die Historikerin stellt ihre Fragen an die Geschichte immer auch mit wachem Blick für die Belange der Gegenwart. In der McCarthy-Ära verweigerte die streitbare Linksintellektuelle die Kooperation mit dem Staatsapparat und wich mit ihrem Mann, der sogar inhaftiert wurde, ins politisch tolerantere Kanada aus. Vor dem 11. September 2001 waren die kulturellen Grenzziehungen und Überschreitungen zwischen Christentum und Islam für sie kein vordringliches Thema. Sie brannte darauf, mehr über das Leben und Denken, über die Beweggründe der „kleinen“ Leute in Erfahrung zu bringen: „Warum traten zum Beispiel katholische Handwerker und Frauen im Frankreich der Reformationszeit plötzlich zum Protestantismus über?“ Natalie Zemon Davis wurde zu einer Pionierin der Mentalitäts- und Sozialgeschichte und der historischen Geschlechter- und Frauenforschung  Drei exemplarische und denkbar unterschiedliche Biografien stellt sie in ihrem bei Wagenbach erschienenen Buch Drei Frauenleben nebeneinander: Die jüdische Geschäftsfrau Glikl bas Judah Leib aus dem Frankfurt des 17. Jahrhunderts, die Malerin Maria Sibylla Merian, die sich scheiden ließ und in Surinam Insektenforschung betrieb, und die katholische Nonne Marie de l’Incarnation, die aus Frankreich ins ferne Nordamerika aufbrach, um Indianerfrauen zu missionieren. Bis ins Kleinste geht die Autorin den Nuancen des Denkens, Fühlens und Handelns dieser drei Frauen nach. Die Forscherin scheint eine unerschöpfliche Neugier darauf umzutreiben, wie andere Menschen „ticken“, was ihre Individualität und ihren historischen Ort ausmacht, über ein bloßes Oberflächenpanorama hinaus.

Gleich zu Beginn lässt sie die drei Protagonistinnen in einem temperamentvollen Streitgespräch aufeinandertreffen. Die französische Nonne wettert empört: „Unvorstellbar, mich mit zwei so gottlosen Frauen zwischen zwei Buchdeckel zu zwängen.“ Worauf die Jüdin hitzig zurückgibt: „Was wollt ihr damit sagen? Jahwe – sein Name sei gepriesen – war stets in meinem Herzen und auf meinen Lippen.“ Die Naturforscherin indes meint: „Ich bin hier völlig fehl am Platz. Diese Frauen empfanden keine Liebe für die Natur.“ Unversehens verwandelt sich das historische Buch in eine romanhafte Situation, in der auch die Autorin Davis selbst das Wort ergreift: „Lasst es mich erklären. […] Ich wollte eine Jüdin, eine Katholikin und eine Protestantin zusammenbringen. […] Ich wollte herausfinden, ob ihr drei auch mit Geschlechterhierarchien zu ringen hattet.“ Worauf die drei Frauen indigniert fragen: „Geschlechterhierarchien? Was sind Geschlechterhierarchien?“

 

So wechselt die 1928 in Detroit geborene Sozialhistorikerin, die sich in bester akademischer Tradition stets auf akribisches Quellenstudium stützt, bisweilen flugs ins literarisch-fiktionale Fach. Die emeritierte Professorin der Princeton University hat gern andere Arten erkundet, Geschichte und Geschichten zu erzählen, als es die Konventionen der Geschichtswissenschaft vorsehen.

Sie stieß zum Beispiel bei ihren Forschungen über die französische Landbevölkerung des Languedoc auf eine abenteuerliche Episode, die ihr spontan als idealer Stoff für einen Film erschien: Ein weggelaufener Ehemann kehrt nach Jahren zu seiner Familie in die Pyrenäen zurück und entpuppt sich erst später als gewiefter Täuscher, als der echte, abtrünnige Ehegatte auftaucht. In dem von Natalie Zemon Davis initiierten Film „Die Wiederkehr des Martin Guerre“ spielte Gérard Depardieu die Hauptrolle, während die Historikerin selbst, von den Rätseln und Widersprüchen des Stoffes gepackt, die Regionalarchive vor Ort durchforstete und die Story als Fallbeispiel über Identität und Geschlechterverhältnisse im 16. Jahrhundert in einem Buch reflektierte: „Ohne die Hilfe meines wahren Ehemanns, Chandler Davis, hätte diese Geschichte eines Ehebetrügers nie geschrieben werden können.“ Ihr Mann, der neben seiner Universitätskarriere als Mathematikprofessor auch ein bekannter Sciencefiction-Autor ist, hat die Forscherin bei ihren Grenzgängen zwischen Wissenschaft und Literatur stets bestärkt. Sie meint: „Geschichte zeigt Möglichkeiten auf, über die Gegenwart nachzudenken. Das Erzählen der Vergangenheit spielt mit der Möglichkeit, dass die Dinge auch anders sein könnten.“

 

 

Zum Weiterlesen:

 

Natalie Zemon Davis, Leo Africanus. Ein Reisender zwischen Orient und Okzident. 2008. 397 Seiten, 38 Euro

 

Natalie Zemon Davis, Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l’Incarnation, Maria Sibylla Merian. 1996. 388 Seiten, 29,50 Euro

 

Natalie Zemon Davis, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre. 2004. 222 Seiten, 11,90 Euro

(Alle im Wagenbach Verlag, Berlin)

 

Dietrich Rauchenberger, Johannes Leo der Afrikaner. Seine Beschreibung des Raumes zwischen Nil und Niger nach dem Urtext. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1999 (Reihe Orientalia biblica et christiana). 499 Seiten, 99 Euro (ein Teil des Manuskripts in einer kritischen deutschen Übersetzung mit einer wissenschaftlichen Biografie und Studie)

 

Johann Leo Africanus. Beschreibung Afrikas. Hrsg. von Karl Schubarth-Engelschall. Brockhaus Verlag, Leipzig 1984 (einzige deutsche Gesamtausgabe, allerdings teilweise fehlerhaft, nur antiquarisch)

 

Amin Maalouf, Leo Africanus. Der Sklave des Papstes. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004. 480 Seiten, 12,50 Euro

 

 

Elke Linda Buchholz, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet als freie Autorin, Journalistin und Kunsthistorikerin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr zusammen mit Michael Bienert Stille Winkel in Potsdam bei Ellert & Richter.