Vom Zusammenwachsen in der Literatur
Von Petra Boden
Als die Mauer gefallen und bald darauf zu sehen war, wie sich die erste Euphorie in zähe Enttäuschung verwandelte, gab es Schätzungen, wie lange es dauern würde, bis West und Ost einander nicht mehr fremd wären. Zehn Jahre, so etwa. Das erschien einigen als viel zu lang. Inzwischen aber ist die doppelte Zeit ins Land (oder sollte man sagen: in die Länder?) gegangen, und die Deutschen West sind den Deutschen Ost – und umgekehrt – so fremd wie 1989.
Zum Osterfest 2009 überraschte Franz Müntefering die Republik mit der Empfehlung, sie möge sich eine neue, eine gesamtdeutsche Verfassung geben. „Keine Experimente“, so der Kommentar von Bärbel Krauß in der Stuttgarter Zeitung vom 14. April: „Den Frust im Osten muss man anders bekämpfen.“
Einen Vorschlag machte Heiner Müller schon kurz nach der Wende, als er den frisch vereinten Deutschen riet, einander ihre Geschichten zu erzählen.
Noch jüngst vertraute Julia Franck darauf, dass die mentale Überwindung der Teilung im Erzählen gelinge, und bat AutorInnenen aus Ost und West, über ihre Erfahrungen mit der Grenze zu schreiben. Vierzehn KollegInnen lieferten Originalbeiträge, neun griffen nach bereits Gedrucktem. Insgesamt ergab sich eine bemerkenswerte, weil höchst disparate Mischung nicht nur deutscher Perspektiven; ein Mosaik gleichsam, dessen Teile sich aber nicht zu einem Ganzen fügen. Vor allem weil Texte jener Ungenannten fehlen, die sich für das Thema nicht zuständig fühlten und abgesagt haben.
Wie naiv erscheint die oft gehörte Gewissheit, dass zusammenwachsen werde, was zusammengehört, wenn sich vor den Augen der Leser Familiendramen von geradezu biblischer Dimension abspielen. Von einer Bruderliebe, der die Grenze nichts anhaben konnte, die aber zum Bruderhass wird, als diese Grenze verschwindet, erzählt Katrin Seglitz in ihrem Roman Der Bienenkönig, in dem das Fiktive exemplarisch für eine tausendfach gelebte Realität steht. Worüber bislang im vertrauten Gespräch, bei Gelegenheit herbeigesehnter Besuche geschwiegen wurde, darüber wird jetzt Rechenschaft eingefordert, so hilf- wie erbarmungslos. Seglitz formuliert knapp, präzise und unaufdringlich. Umso nachdrücklicher tritt hervor, dass es im Zwist der Brüder gar nicht um das Haus geht, das der Vater nur einem von beiden vererbt hat. Es geht um viel Gewichtigeres: um Bevorzugung und Benachteiligung, um verpasste Lebenschancen, um Aufopferung und ein sich darauf berufendes Recht auf Liebe. Es ist die Tochter des im Westen lebenden Bruders, die das durchschaut und deshalb nicht aufgibt, was verloren scheint.
Nicht für die Länge eines Satzes traut Reinhard Jirgl den Worten, mit denen die Geschichte einer Familie erzählt werden könnte, die in einem realen Fotoalbum dokumentiert ist. Er zerbohrt sie, zerstört mit Furor ihre gewohnte Schreibweise, zerbricht mit den Buchstabenfolgen ihre Verständlichkeit, um begreifbar zu machen, was sich dem Verstehen entziehen muss. Auf der Familie lastet ein Fluch, der auf den Ersten Weltkrieg zurückgeht, als ein aus Schlesien und ein anderer aus der Niederlausitz stammender Soldat auf Leben und Tod aneinandergebunden wurden. Adam nennt Jirgl den Nachkommen, der das Album an seinen mit der Schwester im Inzest gezeugten Sohn übergeben will. Noch rechtzeitig ehe dieser sein Heil in den USA suchen wird. Als könne er die gesamtdeutsche Geschichte seiner drei Generationen umfassenden Familie, die sich wie eine Variation auf die sieben Todsünden liest, im Flug hinter sich lassen. Die Stille ist kein klassischer Familienroman. Seine Lektüre ist anstrengend und verwirrend. Aber doch, sie lohnt.
Welcher Ursprung die sieben Geschwister in Emma Braslavskys Familienroman Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik miteinander verbindet, wissen sie nicht, denn die Mutter hat um das Verschwinden der Großmutter ein Geheimnis gemacht und es mit in den Tod genommen. Am 11. 11. wird sie begraben. Das Zeremoniell gerät zu einem ins Groteske kippenden Maskenspiel ihrer Töchter und Söhne, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie sind frei von bezeugten Erinnerungen und damit einer Geschichte, der sie sich verpflichtet fühlen oder um deren Wahrhaftigkeit sie streiten könnten. Frei genug, um jeweils die zu erfinden, die sie brauchen, um – in Ost und West – die Identitäten zu leben, die zu ihnen passen. Nur der tote Bruder kennt die Wahrheit; aber der spricht aus dem Off und wird von den Geschwistern nicht gehört. Zum Glück, sonst gäbe es Streit, denn für jeden stünde alles auf dem Spiel. Mit der Frage danach, was Erinnerung ist, wozu man sie braucht und ob man sie miteinander teilen muss, ist es der Autorin ernst. Deshalb der ganze Karneval.
Wohin aber mit einer Lebensgeschichte, die niemanden mehr interessiert, fragt Julia Schoch in ihrem Roman. Die Mauer ist weg, und mit einem Mal scheinen alle zu wissen, dass das Leben dieser Frau so banal gewesen ist, wie es nach außen hin den Anschein hatte. Niemand ahnt, dass sie die Kraft zum Warten auf die Zukunft aus einer verbotenen Liebe gezogen hat. Und niemand fragt. Sie entscheidet sich für den Freitod, weil sie nur dadurch zum ersten Mal selbstbestimmt über ihr Leben verfügen kann. Und dann beginnt auch die Schwester der Toten zu verstehen, was diese, Jahre nach der Wende, schlagartig begriffen hatte: Weil sie so fest mit dem stillen Widerstand gegen das Alte verwachsen geblieben war, hatte sie dessen Muster nicht abstreifen können für ein Leben im Neuen. So wenig wie sie je auf die Idee gekommen war, einfach alles stehen und liegen zu lassen. Ihr Ich konnte sie nur zurückgewinnen, indem sie genau das dann endlich tat, mit radikaler Konsequenz und in der westlichsten aller westlichen Metropolen. In New York. Mit der Geschwindigkeit des Sommers.
Jenny Erpenbeck hat die Sommer ihrer Kindheit im Haus der Großmutter verbracht, inmitten der märkischen Idylle. Dann fiel die Mauer, kam das Gesetz der Rückgabe vor Entschädigung, wurde das Haus abgerissen, war alles aus. Sie ist in die Archive gegangen, um zu prüfen, ob dieses Gesetz einem gerechtfertigten Anspruch auf Eigentum Geltung verschafft. Sie fand heraus, dass die familiären Erinnerungen über die früheren Besitzverhältnisse korrigiert werden mussten. Und mehr noch: Die Lebenswege der drei Familien, denen über fünf Generationen hinweg das Haus gehört hatte, zeigten ein Spiegelbild der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese exemplarische Bedeutung hebt Erpenbeck hervor, indem sie nur die Mitglieder einer jüdischen Fabrikantenfamilie beim Namen nennt. Weil die Autorin allen Lebenswegen den gleichen Respekt zuteil werden lässt, wiegen die ihrer eigenen Familie nicht schwerer als die der anderen. Erzählend hat sie den Groll, den sie beim Verlust des Ortes ihrer Kindheit empfand, in Heimsuchung hinter sich lassen können.
Auch Biografien im Westen haben sich durch den Mauerfall verändert.
Gregor und Leo, die Hauptfiguren in Jochen Schimmangs Roman Das Beste, was wir hatten, kennen einander aus den wilden Zeiten der Westberliner K-Gruppen. Bei einem Wiedersehen in Bonn stellt sich heraus, dass aus dem einen ein Ministerberater im Kanzleramt, aus dem anderen ein Verfassungsschützer geworden ist. Ohne Not und nicht mal mit Opportunismus. Sie und all ihre Freunde sind bei sich und „in der Mitte“ angekommen, in der wohlhabenden, politisch stabilen Bundesrepublik der achtziger Jahre. Von ihnen aus hätte es so bleiben können. Alles war gut. Aber dann fiel die Mauer. Fast über Nacht wurde aus dem, was ihnen gut und richtig schien, ein nur Vorläufiges, Ehemaliges. Der Weg von der lauschigen Bonner in die hektische Berliner Republik wird ihrer nicht sein. Kein Interesse. Leo geht in den Vorruhestand und Gregor „ziemlich weit weg“. Ein bisschen melancholisch ist ihnen schon zumute beim Rückblick auf ihre goldenen Jahre.
Selbst Berlin-Kreuzberg ist zwanzig Jahre nach dem Mauerfall nicht mehr das, was es mal war. Das kreative Milieu, das der Protagonist in Ralf Rothmanns Roman Feuer brennt nicht zum Leben und Lieben und Schreiben brauchte, ist längst nach Mitte und Prenzlauer Berg weitergezogen, und es ist auch nicht mehr dasselbe. Der Schriftsteller Wolf flieht mit seiner Geliebten ins immer schon kleinbürgerliche Friedrichshagen, an den grünen Rand im Osten der Stadt. Und fühlt sich wie unter Außerirdischen, die sich hinter Sicherheitszäunen, Überwachungskameras und unter violetten Dachziegeln aus dem Westen trotzig verschanzen. Das riecht ein bisschen nach Klischee, wäre da nicht die Party im Gewächshaus mit den Gästen, die zwar alle aus dem Osten sind, aber doch so ganz anders, als Wolf ihn sonst wahrnimmt. Mehr als diese überraschende Beobachtung aber gestattet er sich nicht. Zu sehr bleibt er mit der Sinnkrise seines Lebens beschäftigt.
Von den Schwierigkeiten des Zusammenwachsens handelt auch Daniela Dahns bislang kaum beachtetes „Buch des Zweifels“Wehe dem Sieger!, eine radikal provozierende Bilanz der Jahre nach 1989. Mitunter stört der etwas selbstgerechte Tonfall, dennoch: Öffentlich darüber zu streiten, ob man ihr in der Sache zustimmen kann oder nicht, wäre ein lohnendes Experiment.
Zum Weiterlesen:
Julia Franck (Hrsg.), Grenzübergänge. Autoren aus Ost und West erinnern sich. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2009. 288 Seiten, 19,95 Euro
Katrin Seglitz, Der Bienenkönig. Weissbooks Verlag, Frankfurt a. M. 2009. 220 Seiten, 18,80 Euro
Reinhard Jirgl, Die Stille. Hanser, München 2009. 536 Seiten, 24,90 Euro
Emma Braslavsky, Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik. Claassen, Berlin 2008. 390 Seiten, 19,90 Euro
Julia Schoch, Mit der Geschwindigkeit des Sommers. Piper, München 2009. 160 Seiten, 14,95 Euro
Jenny Erpenbeck, Heimsuchung. Eichborn, Berlin 2008. 192 Seiten, 17,95 Euro (btb, 8 Euro)
Jochen Schimmang, Das Beste, was wir hatten. Edition Nautilus, Hamburg 2008. 320 Seiten, 19,90 Euro
Ralf Rothmann, Feuer brennt nicht. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009. 303 Seiten, 19,80 Euro
Daniela Dahn, Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2009. 304 Seiten, 18,90 Euro
Petra Boden arbeitet unter anderem zur Geschichte der Literaturwissenschaft in beiden deutschen Staaten. Sie ist promovierte Germanistin und lebt in Berlin.