Interview mit Ute Hechtfischer, Literaturwissenschaftlerin und Programmleiterin im Verlag J.B. Metzler, die die Projektleitung für den Kindler innehat.
Am 4. September erscheint die dritte Auflage von Kindlers Literatur Lexikon. Wie hat die Geschichte dieses Nachschlagewerks begonnen?
Von 1965 bis 1972 erschien die erste Auflage des Kindler in sieben Bänden, nach dem Vorbild und auf der Grundlage des italienischen Literaturlexikons Dizionario Letterario Bompiani, nach Werken, das heißt nach den Originaltiteln angeordnet. Ab 1988 folgte eine zweite Auflage in zwanzig Bänden, die nach AutorInnen angeordnet war, die einzelnen Werke folgten in alphabetischer Reihenfolge, ebenfalls mit dem Originaltitel. Außerdem gab es eine Studienausgabe, die schwarzen kartonierten Bände in vier roten Schubern, die sehr gut verkauft wurde. Seit einigen Jahren ist sie nicht mehr lieferbar, und die Nachfrage nach dem neuen Kindler gewachsen. – Damals wie heute bietet der Kindler den umfangreichsten Überblick über die Literatur der Welt, von den Anfängen der schriftlichen Überlieferung bis heute.
Was ist neu, was ist anders in der dritten Auflage?
Der neue Kindler erscheint in siebzehn Bänden plus einem Registerband und ist ebenfalls nach AutorInnen angeordnet, deren Werke folgen nun chronologisch, um auch die Entwicklung des gesamten Werks abzubilden.
Neu sind die sogenannten Biogramme, die Kurzinformationen zu den AutorInnen bieten, also die wichtigsten Lebensstationen, einen kurzen Überblick über das Gesamtwerk und eine erste Einordnung.
Neu ist ebenfalls, dass es mehr Werkgruppenartikel gibt als in der zweiten Auflage. Dort gab es lediglich Artikel zum lyrischen Werk einzelner AutorInnen. Der neue Kindler enthält nun auch Artikel zum erzählerischen Werk, zu den Tagebüchern etc., also zu Gattungen, die gut zusammenzufassen sind, um so einen besseren Überblick zu geben und auch mehr Werke erwähnen zu können. Statt nur drei Karl May-Romane zu bringen, wie die zweite Auflage, haben wir jetzt einen Artikel zum erzählerischen Werk, in dem sechzehn Bücher besprochen werden.
Und schließlich haben wir die anonymen Werke nicht mehr in einem Band am Ende separiert, sondern in das Alphabet einsortiert. So findet sich zum Beispiel Tausendundeine Nacht unter dem Titel Alf laila wa-laila in Band 1. Im Register sind natürlich auch die Titel der Übersetzungen und die Titelvarianten zu finden.
Bei Karl May stellt sich dann gleich die Frage nach der Auswahl der AutorInnen …
Neu aufgenommen wurden vermehrt AutorInnen, die nach 1950/60 geboren sind, etwa Daniel Kehlmann, Jonathan Franzen, Anna Gavalda, Zadie Smith und viele andere. Und wir haben geschaut, in welchem quantitativen Verhältnis die einzelnen Literaturen vertreten sind, wie viele amerikanische Werke es gibt, wie viele deutschsprachige usw. und haben bei diesem Abgleich festgestellt, dass die romanischen Literaturen überrepräsentiert waren, was sicherlich noch vom Bompiani herstammt. Wir haben versucht, die Umfänge pro Sprache nachzujustieren: Bei der amerikanischen Literatur war einiges nachzutragen, wir haben die Literatur der romanischen Sprachen etwas reduziert, die deutschsprachige ebenfalls, und haben den Blick geöffnet für die Literaturen, die noch nicht oder weniger vorkamen. Das waren zum Beispiel die Literaturen der osteuropäischen Länder, wo sich seit 1989 sehr viel getan hat, wo einst verbotene Werke plötzlich breit rezipiert wurden und systemkonforme bedeutungslos wurden. Es gibt Länder, die im Kindler bislang gar nicht vorkamen, wie Afghanistan. Wir haben den Blick nach Ostasien und Afrika gewendet auf Literaturen, die bisher zu kurz kamen.
Auch da muss man sicherlich eine strenge Auswahl treffen, wie geschieht das?
Natürlich war ein Kriterium für die Aufnahme die Frage, ob die deutsche Übersetzung eines Werkes vorliegt, ob es also hier rezipiert wurde. Die 75 FachberaterInnen, die für die einzelnen Sprachen verantwortlich sind, haben sich zusätzlich gefragt, was in den einzelnen Ländern, also zum Beispiel in Indien oder Thailand zum Kanon gehört, und was davon für uns im Westen wichtig ist. Das sind ja ganz unterschiedliche Blicke auf die Literatur und deren Bedeutung.
Bei der zweiten Auflage – so hörte man – hat die Redaktion eher aufgenommen, was ihr angeboten wurde, ohne dass ein bestimmter Umfang für die jeweilige Literatur vorgegeben war. Nun hat unser Herausgeber Heinz Ludwig Arnold präzise Umfangs- und Kontingentvorgaben für die einzelnen Sprachgebiete gemacht.
Sind Artikel aus der letzten Auflage übernommen oder alle neu geschrieben worden?
Die guten Artikel wurden übernommen, rund die Hälfte wurde ganz neu geschrieben. Und generell wurden alle Artikel durchgesehen, aktualisiert und bearbeitet. Insbesondere wurde darauf geachtet, ob Wertungen noch ihre Berechtigung haben, zum Teil war auch der Ton altertümlich.
Wie hat sich denn der Umfang verändert?
Der neue Kindler enthält rund 21 500 Artikel, davon etwa 7800 Biogramme und rund 13 000 Werkartikel und Werkgruppenartikel, zusätzlich gibt es über 600 Artikel zu anonymen Werken und Stoffen. Wir konnten den Umfang in etwa beibehalten, weil wir die in der zweiten Auflage sehr ausufernden Bibliografien aktualisiert und gleichzeitig stark gestrafft haben.
Welche anonymen Werke finde ich denn im Kindler und welche Stoffe?
Beispiele für Anonyma sind etwa Beowulf, Carmina Burana, die Edda, das I-Ging, der Koran, das Tao te king etc. Zu den Stoffen zählen wir zum Beispiel den Alexanderroman und das Gilgamesch-Epos, also Gegenstände, die in verschiedenen Gegenden zu verschiedenen Zeiten in Literatur gefasst wurden. Aber wir haben unter den Stoffen auch Literatur zu bestimmten Bereichen – Sufi-Literatur oder Runen-Inschriften – aufgenommen und auch zu einzelnen umfangreicheren Gattungen, etwa zu Comics und zu iberoromanischen Ritterbüchern.
Vielleicht doch noch mal gefragt: Wie trifft man eine Auswahl aus der riesigen Menge von Werken der Weltliteratur? Gehören Comics und Karl May zum Kanon?
Es gab die Vorgabe, dass auch zentrale Werke der populären Literatur vorkommen sollten, einzelne Krimi-AutorInnen sind etwa drin oder die Harry Potter-Romane. Zum Kanonbegriff gab es theoretische Vorarbeiten und letztlich waren – obwohl natürlich jeder Kanon auch eine subjektive Seite hat – die 75 Fachberater gefragt. Als Spezialisten kennen sie die jeweiligen Länder und Sprachen, kennen die Werke von hoher literarischer Qualität. Sie wissen auch, welche Werke eine breite Rezeption im Land erfahren haben und was in den Westen gewirkt hat, wovon er Kenntnis nehmen sollte. So würde ich die Auswahl beschreiben. Im Kindler sind also nicht nur die Bücher vertreten, die bei uns übersetzt wurden, sondern auch die Werke, die im Land selber wichtig waren, die sogenannten Nationalepen beispielsweise.
Sind denn alle Übersetzungen im Artikel erwähnt, oder nur die neuesten oder wichtigsten?
Der Titel der Übersetzung steht generell am Artikelbeginn mit Angabe der ÜbersetzerInnen und dem Jahr der Übersetzung. Wir haben uns meistens für die aktuellste Übersetzung entschieden. Wenn es jedoch gleichberechtigte Übersetzungen gibt, wie bei Dostojevskijs Schuld und Sühne, haben wir weitere in die Bibliographie aufgenommen.
Was will der Kindler denn genau sein, welche Zielgruppe stellt der Verlag sich vor?
Der Kindler ist ein Werklexikon, ein spezialisiertes Nachschlagewerk. Er wendet sich natürlich an die Fachbibliotheken, daneben aber auch an alle Stadtbüchereien. Weitere Zielgruppen sind WissenschaftlerInnen und insbesondere die zahllosen interessierten Literaturleserinnen und -leser, die nach fundierten Informationen suchen.
Warum erscheint der Kindler als Print und Kindler-Online?
Dass es nicht selbstverständlich ist, heutzutage noch über ein Buchlayout nachzudenken, über die Qualität des Umschlagmaterials und die Farbe des Vorsatzpapiers, ist uns bewusst. Aber beim Kindler ist es sicher nötig und berechtigt, eine gedruckte Ausgabe vorzulegen, denn viele der Interessenten wollen einfach noch in einem Buch blättern und sind nicht internetaffin.
Daneben gibt es einen großen Bedarf nach Online-Informationen. Kindler-Online ist einerseits für die Bibliotheken gedacht, etliche bieten ja zunehmend Online-Datenbanken an, und andererseits natürlich für WissenschaftlerInnen zum schnellen Nachschlagen.
Zu Kindler-Online taucht sicher oft die Frage auf, warum überhaupt, wenn doch in Wikipedia alles steht!
Ich könnte hier weit ausholen und über die Funktion von Verlagen generell sprechen. Es ist einfach ein großer Unterschied, ob ein Nachschlagewerk von einem Verlag, einem Herausgeber und 75 FachberaterInnen strukturiert und moderiert wird, die die Proportionen bestimmen und die Qualität kontrollieren, oder ob die Texte nach dem Zufallsprinzip entstehen. Wikipedia wird nie die Homogenität in der Auswahl und in der Qualität der Artikel erreichen, die ein Kindler hat. Dort gibt es zwar auch Autoreneinträge, die – mehr oder weniger umfangreich - die Lebensstationen nennen und Werklisten bieten. Doch die meisten Wikipedia-Artikel enthalten keine Informationen zu einzelnen Werken. Bei berühmten Autoren wie Kafka oder Shakespeare ist das zwar der Fall, aber zum Beispiel nicht bei Ilse Aichinger oder Jeanette Winterson. Ich denke, je spezieller ein Nachschlagewerk ist, desto weniger kann es als offenes Internet-Projekt in ausreichender Qualität und Homogenität realisiert werden. Bei sogenannten Konversationslexika ist das etwas anderes, wie man beim Brockhaus erfahren hat. Aber je spezieller ein Nachschlagewerk ist, desto wichtiger sind Verlag und Herausgeber als Steuerungsinstanz.
Journalistenkollegen haben gefragt, beziehungsweise moniert, dass Kindler-Online genauso teuer ist wie die Buchausgabe …
Der Verlag spart bei der Datenbank zwar Satz-, Papier- und Druckkosten, das ist wahr, aber die Entwicklung und Programmierung einer Online-Datenbank ist wesentlich teurer als Papier und Druck. Die Honorare und Redaktionskosten machen zudem einen großen Posten aus, der von beiden Medien getragen werden muss. Deswegen haben wir für die Bände und die Online-Datenbank den gleichen Preis angesetzt, nur beim Erwerb beider Medien zusammen wird es günstiger.
Wie muss man sich die Online-Ausgabe vorstellen, es ist keine CD-Rom, sondern eher ein E-Book …
Es ist eine reine Online-Anwendung. Man kauft sich den Zugang, bekommt einen Zugangscode und kann dann am eigenen Rechner im Kindler recherchieren. Die Vorteile der Online-Datenbank sind schlicht und ergreifend, dass ich nach allem suchen kann: Es gibt eine Volltextsuche, in die ich jeden beliebigen Begriff eingeben kann, zum Beispiel „Odyssee“ und finde dann Homers Werk, aber auch die Werke, die sich auf diesen Stoff beziehen. Und wir haben eine Suchmaske, die zweigeteilt ist. Es gibt dort eine Suche nach AutorInnen, das heißt nach Lebensdaten, nach den Herkunftsländern, nach dem Geschlecht und eine nach den Werken. Dort kann ich nach Titeln suchen, nach Erscheinungsjahren oder auch nach einem Zeitraum und nach der Sprache – von Abasinisch bis Zulu. Ich kann ebenfalls nach den Gattungen suchen, gegliedert nach Hauptgattungen und den zugehörigen Untergattungen, also zum Beispiel für Epik/Prosa kann ich etliche Untergattungen auswählen: Biografie, Erzählung, Kurzgeschichte, Märchen, Roman, Tagebuch etc. Zusätzlich kann ich die einzelnen Suchen kombinieren. Das Ergebnis ist dann eine Trefferliste, durch die die Suche noch weiter verfeinert werden kann. Man kann die Artikel ausdrucken und einzelne Passagen kopieren.
Bei den Gattungen taucht unter „Weiteren“ Sachliteratur auf, was fällt darunter?
In die dritte Auflage sind rund 1900 Werke der Sachliteratur aufgenommen, also Artikel zu den wichtigsten Werken aus allen Disziplinen, zum Beispiel aus Medizin, Kunst, Technik, Philosophie, Pädagogik usw. Wenn wir in der Suchmaske nach „Philologie“ suchen, finden sich 95 Werke, darunter solche von Quintilian, Gottsched, Lotman, Greenblatt, Bachtin, de Man etc. Auch die letzte Auflage enthielt Werke der Sachliteratur, wir haben die Auswahl aktualisiert, Neues aufgenommen und Veraltetes gestrichen.
Zum Schluss möchte ich doch noch wissen, wie ein solches Mammutunternehmen entsteht …
Dazu lässt sich viel sagen: Es begann im Sommer 1994 in Göttingen am Esstisch des Herausgebers, Heinz Ludwig Arnold. Dort haben wir die Konzeption entwickelt, wir haben die Artikelstruktur entworfen, die Biogramme erfunden. Wir haben über die Kontingente gesprochen, über die Zusammenstellung der Fachberater und haben alle Formalien diskutiert und diverse Merkblätter entwickelt. Im Herbst folgte dann ein Treffen mit einigen FachberaterInnen, mit denen wir die Kriterien der Auswahl, also die Kanonfrage, diskutiert haben sowie das generelle Vorgehen. Die Fachberater haben dann geprüft, was aus der alten Auflage zu übernehmen war, sie haben gestrichen und ergänzt, eine neue Artikelliste erstellt – jedem wurde ein Seitenkontingent vorgegeben – und dann die Verfasser gesucht. Das Ganze lief mit Computerunterstützung. Wir haben ein Autorentool entwickelt, das xml-fähige Daten generiert, und damit alle Grundlagen für Kindler-Online gelegt und auch dafür, die Register der Print-Ausgabe automatisch erzeugen zu können. Außerdem hatten wir ein Lemma-Verwaltungssystem, also eine Datenbank, in der während der Produktion alle Namen, Adressen sowie die 21 500 Artikel verwaltet wurden, bis sie dann für den Satz automatisch hintereinandergehängt wurden.
Wie viele MitarbeiterInnen waren beteiligt?
Neben dem Herausgeber Arnold und seiner Frau Christiane Freudenstein-Arnold, die für die gesamte Organisation zuständig war, gab es einige Redakteursstellen in Göttingen, dazu freie Mitarbeiter für die Korrekturen etc. Dazu kommen die schon erwähnten 75 FachberaterInnen und etwa 1500 VerfasserInnen der Artikel. Hier im Verlag bin ich die Projektleiterin und habe eng mit der Herstellerin und der Kollegin fürs elektronische Publizieren zusammengearbeitet.
Die Literatur erweitert sich ja ständig, wie wird denn weitergearbeitet?
Für Kindler-Online gibt es ab Januar 2010 Aktualisierungen, die man für 99,95 Euro im Jahr abonnieren kann. Wir werden fünfzig bis hundert neue Artikel im Jahr einstellen und arbeiten jetzt schon an den Nachträgen. Zum Beispiel steht Tellkamps Roman Der Turm auf der Liste, Julia Francks Mittagsfrau sowie neue Werke von Orhan Pamuk, Martin Walser, A. L. Kennedy, Philipp Roth etc. Für die Druckfassung wollen wir einen Supplement-Band nicht ausschließen, es gibt aber keine konkreten Pläne.
Die Fragen stellte Irene Ferchl.
Kindlers Literatur Lexikon (KLL). Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. 3., völlig neu bearbeitete Auflage, 18 Bände inkl. einem Registerband. 14.548 Seiten, 2.400 Euro (Subskriptionspreis bis 31. 12. 2009: 1.950 Euro)
Online-Datenbank auf dem Stand der Printausgabe zum gleichen Preis
Aktualisierungsabonnement: 99,95 Euro/Jahr
Kombiprodukt mit dem Printwerk in 18 Bänden und der Online-Datenbank 3.360,- Euro (Subskriptionspreis bis 31. 12. 2009: 2.730 Euro)
Informationen unter www.derkindler.de