Porträt

„Das Instrument fordert unerbittliche Ehrlichkeit“

Petra Morsbachs Schreiben

 

Von Hiltrud Häntzschel

 

Petra Morsbach schreibt seit ihrem ersten Roman Plötzlich ist es Abend (1995) an einem Panorama der gegenwärtigen Welt, an einer comédie humaine unserer Gesellschaft, in Segmenten versteht sich, in einzelnen Mikrokosmen. Wie verhalten sich Theorie und Praxis im Alltag zueinander, wie bedingen sie einander? Was wird aus den Idealen, mit denen ein junger Mensch seinen Lebensweg beginnt, als begabter Künstler, als gläubiger Katholik, der sich zum Dienst an der Kirche berufen fühlt? Die Wirklichkeit ist weit komplexer als die Theorie, sie ist voller Widerstände, sie ist das raue und immer auch unschöne Gegenstück des Ideals. Das ist der Stoff für Morsbachs Romane, daran arbeitet sie sich ab, daran reifen ihre Figuren.

Im ersten Roman war es die Ideologie, der Kommunismus im sowjetischen Alltag, im zweiten, dem Opernroman (1998) das Theater – die 1956 geborene Petra Morsbach studierte in München und Leningrad Theaterwissenschaft, Psychologie und Slawistik, bevor sie bis 1993 als Dramaturgin und Regisseurin arbeitete.

In der Geschichte mit Pferden (2001) thematisierte sie die edle Kreatur und den Herrensport, in Gottesdiener (2004) Religion als Beruf: den Glauben und den Dienst am Wort Gottes, der sich hart tut im Allzumenschlichen des Gemeindealltags. Für diese Bücher wurde sie mit dem Marie-Luise-Fleißer-Preis und dem Johann-Friedrich-Cotta-Preis ausgezeichnet. Im neuesten Roman Der Cembalospieler (2008) geht es um die Kunst, genauer, um die Musik und den Könner an seinem Instrument, der sich im Kunstbetrieb durchsetzen und behaupten muss.

Dazwischen ist 2006 ein ganz anderes und höchst erstaunliches Buch von Petra Morsbach erschienen und vom Feuilleton auf verräterische Weise so gut wie verschwiegen worden: der äußerst scharfsinnige Essay Warum Fräulein Laura freundlich war. Er setzt sich anhand differenzierter Textanalysen mit der „Wahrheit des Erzählens“ auseinander und zwar an Texten von Autoren, die eine Deutungshoheit im literarischen Diskurs der Bundesrepublik beanspruchen: Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki und Alfred Andersch. Durch genaues und möglichst unvoreingenommenes Lesen kommt die Autorin dem „Erkenntnissystem des Erzählens“ auf die Spur, den Strategien von Wahrheit und Lüge oder doch den Fehlleistungen im Text von Erzählungen, ob diese Strategien nun absichtlich eingesetzt sind oder unbewussten Mechanismen gehorchen. Und da tritt Erstaunliches zu Tage.

Zum Beispiel: Noch bevor Günter Grass sich im August 2006 zu seiner Mitgliedschaft in der SS bekannte und damit einen öffentlichen Eklat auslöste, hat Petra Morsbach in Oskar Matzeraths Größenphantasien, in seiner omnipotenten Unverführbarkeit und in der ironisch-effektvollen Verharmlosung des Dritten Reiches die geheime Scham des Autors über seine eigene Verführbarkeit plausibel offengelegt; sie zeigte eine Lesart der Blechtrommel ganz und gar gegen den Strich, gegen den Mythos des längst kanonisierten Autors Grass. Eine weitere Analyse gilt Alfred Andersch und wie er die eigenen Schuld- und Versagergefühle in seiner letzten Erzählung Der Vater eines Mörders auf die Schuldzuweisung an den Lehrer überträgt, die „Schulkatastrophe mit der Nazikatastrophe“ kurzschließt und dabei autobiografische Wahrheit suggeriert, was ihm jedoch seine eigene Sprache nicht durchgehen lässt. Damit hat die Autorin zugleich den Maßstab für die Wahrheit ihres eigenen Erzählens geliefert: eine Poetologie ihres Schreibens.

 

Mit dem Protagonisten des jüngsten Romans, dem Cembalospieler, kommt die Schriftstellerin der eigenen Existenz einerseits ganz nah, andererseits rückt sie denkbar weit von ihrer Person weg, und wie in den früheren Romanen entfaltet sie wieder mit Sachkenntnis, die von ungewöhnlich gründlichem Recherchieren zeugt, einen weiteren Mikrokosmos vor den Lesern: die Musik, das Konzertleben, den Kunstbetrieb.

Ein hochmusikalisches Wunderkind aus einer lieblosen Familie, in der man sich gegenseitig übel manipuliert, in der Wahnsinn und Alkohol den Alltag zur Hölle machen, arbeitet sich hinauf zum begnadeten Bach-Interpreten. Bereits in der Kindheit manifestiert sich eine angeborene Makula-Degeneration, der junge Mann ist bereits so gut wie erblindet. Der Übel und Außenseiterattribute nicht genug: In der Pubertät sieht er sich mit der Tatsache konfrontiert, dass er homosexuell veranlagt ist.

Seine Porträtistin, die Autorin, ist kein Mann, nicht homosexuell, nicht blind, keine professionelle Musikerin. Petra Morsbach berichtet im Gespräch, dass ein befreundeter Cembalist Porträt saß, der die genannten Eigenschaften und Lebensumstände auf sich vereint und der ihr diese Kindheit beschrieben hat. Seine große sprachliche Könnerschaft machte die differenzierten Beschreibungen der Bachschen Kompositionen und der virtuosen Technik des Cembalospiels überhaupt erst möglich, allerdings sind sie keineswegs eins zu eins in den Roman gelangt.

Trotz der Distanz zu Person und Leben des Protagonisten ist Morsbachs Affinität zu diesen unübersehbar. Es sind die Kunst und der Kunstbetrieb, in dem beide sich bewegen und behaupten müssen: „Ich kenne die Kulturszene inzwischen recht gut. Sie bestimmt auch mein Leben.“ Aber gerade deshalb bedurfte es des Abstands. Der Roman ist aus der Ich-Perspektive des Protagonisten Moritz Bauer geschrieben, Rollenprosa also: „Die Perspektive eines Blinden ist eine erschwerte, im wahrsten Sinne des Wortes behinderte. Ich konnte das paradoxerweise nur anschaulich machen, indem ich als Erzählerin diese Perspektive einnahm. Das hat natürlich auch mich behindert, denn ich durfte Ansichten, Bilder, Gesichter nie direkt beschreiben. Dafür hat die personale Rede andere Reize: sie erlaubte spontane Kommentare, Scherze, Volten, zudem eine frische, saloppe Rede über Kunst. Sprüche wie: ‚Ich ärgere mich. Eis-Moll ist wirklich saublöd’ würden einem Nicht-Musiker niemals einfallen.“ Einen Adressaten dieser Confessio eines den eigenen Schwächen gegenüber Umbarmherzigen, ein Gegenüber gibt es nicht.

„Die Kunst ist ein Hochleistungsberuf“, sagt die Autorin und ihr Held resümiert, was für den Musiker gilt: „Unaufhörlich bedient der Künstler die komplizierte Maschinerie seines Talents und füttert sie mit dem Kraftstoff des Lebens, den er sich selbst versagt.“

Moritz Bauer, der mit seiner und durch seine Kunst Vereinsamte, erzählt, um sich seiner selbst zu vergewissern. Er erzählt auf zwei Zeitebenen in fünf Kapiteln, die nach berühmten Bachschen Cembalokompositionen betitelt und auch in ihrer Feinstruktur untergliedert sind, ein strenges und stringentes Bauprinzip und zugleich „eine Hommage an Johann Sebastian Bach“. Auf der ersten Ebene, in der Gegenwart, lebt Bauer vorübergehend in einem venezianischen Palazzo, gibt ein glänzendes Konzert und wird zu einem zweiten engagiert. Er soll vor einem elitären Publikum die Goldberg-Variationen spielen. Auf der zweiten Ebene erzählt Bauer im Rückblick seine Lebensgeschichte. Im letzten Kapitel, überschrieben „Goldberg-Variationen“, laufen beide Ebenen in einer Engführung zusammen. Das Konzert, auf das der Roman von Anfang an zusteuerte, wird abgesagt, es ist der Tiefpunkt der Karriere: „Der Musiker, dem keiner zuhört, ist ausgelöscht.“ Dennoch ist der Schluss des Romans außerordentlich versöhnlich und erfüllend. Am Ende steht Moritz „gehäutet“, unangreifbar, über dem Kunstbetrieb. Und erst damit ist die Lebenserzählung möglich. Zwar spielt der Cembalospieler die Goldberg-Variationen in Venedig nun nicht, aber Petra Morsbach lässt seine vollendete Interpretation durch die Schilderung in Sprache erklingen.

Die Parallelen zwischen der beschriebenen Kunst und dem Schreiben der Autorin sind unübersehbar: „Die Klarheit der Cembalomusik entspricht meinem literarischen Naturell. Manche Schriftsteller besitzen viel Sprache und können mit Sound arbeiten, wenn sie nicht weiterwissen. Mir fehlt diese Möglichkeit. Ich hörte mal einen Tennisspieler sagen, er spiele, weil er nicht so muskulös sei wie seine Kollegen, mit extrem hart bespanntem Schläger. Dafür müsse er den Ball besonders präzis treffen, denn ein solcher Schläger verzeihe keine Fehler.“ Was Moritz Bauer von der Cembalomusik sagt: „Keine Hysterie, kein Gefühlskult, sondern Klärung und Bewältigung, so intim wie rational“, das gilt ebenso für ihr Schreiben. Sie schreibt keine „Wohlfühlbücher“, es geht ihr in ihrer Prosa und in ihren Stoffen um unbedingte Ehrlichkeit, eben um „die Wahrheit der Erzählung“.

 

Zum Weiterlesen:

Plötzlich ist es Abend. Eichborn, Frankfurt a. M. 1995. 656 Seiten, 24,90 Euro (btb 11,50 Euro)

Opernroman. btb, München 2005. 320 Seiten, 9,50 Euro

Geschichte mit Pferden. Eichborn, Frankfurt a. M. 2001. 332 Seiten, 20,90 Euro (btb, 9,50 Euro)

Gottesdiener. Eichborn, Frankfurt a. M. 2004. 384 Seiten, 22,90 Euro (btb 9,50 Euro)

Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens. Piper, München 2006. 192 Seiten, 14 Euro

Der Cembalospieler. Piper, München 2008. 290 Seiten, 18 Euro

 

 

Hiltrud Häntzschel arbeitet als freiberufliche Literaturwissenschaftlerin und Autorin in München zur Wissenschaftsgeschichte von Frauen, zur Exilforschung, zur Literatur vor allem des 20. Jahrhunderts und zur Biografik. Zuletzt erschien ein Sammelband mit Geschichten zum Thema Der Kuss (2009).