Uwe Johnson zum Gedenken
Von Michael Borrasch
Es würde Uwe Johnson nicht gerecht, ihn – zu seinem 75. Geburtstag am 20. Juli und 25 Jahre nach seinem Tod – auf den „Dichter der beiden Deutschland“ zu reduzieren.
Man konnte ihn mit der „Phrase des Gesamtdeutschen“ jagen, abwegig war sie zunächst nicht: Seine ersten Bücher, Mutmassungen über Jakob, Das dritte Buch über Achim und Zwei Ansichten, beschäftigten sich allesamt mit der deutschen Teilung. Das später entstandene vierbändige Hauptwerk Jahrestage aber, diese Familiensaga der Cresspahls zwischen New York und Mecklenburg, weitete Johnson zu einer Jahrhundertchronik; sie gilt als ein Gedächtnisspeicher deutscher Geschichte – „zu erinnern an die Flüsse von ehemals“.
Nicht erst seit Uwe Johnsons Tod im Februar 1984 gilt sein Werk als grandioser Sonderfall inmitten der deutschen Nachkriegsliteratur; sprachmächtig und in akkurat-penibler Form Wahrheit und Gerechtigkeit gegenüber der Geschichte walten lassend, berührt und fasziniert es in seinem unnachgiebigen wie hochmoralischen Anspruch. Trotz gelegentlich bemüht wirkender Konstruktion entwickelt sich in vielen Passagen eine außergewöhnlich dichte poetische Kraft.
Bereits nach dem Erscheinen seines Debüts Mutmassungen über Jakob hatte sich Johnson den Vorwürfen der Kritik zu stellen. Der Jungautor widersetzte sich launig-souverän, nicht er sei für den schwer durchschaubaren Aufbau der Handlung verantwortlich, sondern die Verhältnisse, die er in Deutschland vorgefunden habe.
Erzählt hat er die Geschichte des Streckendispatchers Jakob Abs, der im Herbst 1956 auf einem Bahnhof an der Elbe jene sowjetischen Militärtransporte bevorzugt abzufertigen hatte, die aus ihren Garnisonen in der DDR zur Niederschlagung des Bürger-Aufstands nach Ungarn verfrachtet wurden. Jakob ist mit Gesine Cresspahl aus Jerichow an der Ostsee befreundet, die nach dem Arbeiter-Aufstand vom 17. Juni 1953 in den deutschen Westen gegangen war, wo sie für die NATO arbeitet. Die Staatssicherheit der DDR will Gesine über den Kontaktmann Jakob für die militärische Spionageabwehr gewinnen. An einem nebligen Morgen kommt Jakob beim Überqueren der Bahngleise ums Leben.
Hier wird keine fortlaufende Geschichte erzählt. Der Autor arbeitet sich auf drei verschiedenen Erzählebenen an die schwer durchschaubaren Ereignisse heran, entwickelt die Handlung von mehreren Blickwinkeln her.
Doch gab es nicht nur Kritik nach der Präsentation der Mutmassungen auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1959, in einer Besprechung hieß es lobend: „Das Unheimliche in der Situation eines zwischen den Mächten geteilten Volkes hat eine solche tiefgründige Darstellung noch nicht gefunden. Ein literarisches und politisches Ereignis.“
Kurz zuvor, im Juli, war der 1934 in Pommern geborene, in Mecklenburg aufgewachsene Johnson nach West-Berlin übergesiedelt. „Wenn der Staatssicherheitsdienst mindestens so tüchtig ist, wie in den Mutmassungen beschrieben, hätten sie dich bald“, hatte die Warnung seiner ostdeutschen Freunde gelautet. Der Autor sah den Wechsel „als einen Umzug. Er gedachte den Flüchtlingslagern mit ihren diversen Geldern fernzubleiben […]. Unter Flucht verstand er eine Bewegung in großer Eile, unter gefährlicher Bedrohung; er war mit der Stadtbahn gekommen.“ So erinnert sich Johnson in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen zwanzig Jahre später an seinen Neuanfang im Westen.
So außergewöhnlich Johnsons Debüt ausfiel, so endete auch sein (Autoren-)Leben. Als im Herbst 1983 – kaum noch für möglich gehalten – der vierte Band der Jahrestage erschien, kam das einem Triumph gleich. Nach dem zehn (!) Jahre zuvor veröffentlichten dritten Teil hatte ein Kräfte zehrender Kampf des Autors eingesetzt, alles in allem 15 Jahre hat Uwe Johnson schließlich an seinem Hauptwerk gearbeitet. Stolz und erleichtert notiert er die Entstehungszeit auf der letzten von 1892 Manuskriptseiten: „29. Januar 1968, New York, N.Y. – 17. April 1983, Sheerness, Kent“.
Die (gesundheitlichen) Beschädigungen, die dieser Kraftakt mit sich brachte, waren enorm. Nach seinem Umzug auf die englische Themse-Insel Sheppey 1974 war Johnson in eine schwere Krise geraten. Der Tod mehrerer Freundinnen (Ingeborg Bachmann, Hannah Arendt, Margret Boveri) sowie die Trennung von seiner Frau hatten eine Schreibblockade hervorgerufen. 1979 ließ er sich von seinem Verleger Siegfried Unseld überreden, Frankfurter Poetikvorlesungen abzuhalten. Deren Buchfassung Begleitumstände brachte ihn wieder ins Schreiben, und sie ist die hilfreichste Einführung in Johnsons komplexes Schaffen – vom Autor selbst gegeben.
Das Werk, bestehend aus Romanen, Erzählungen, Porträts, Vorlesungen, Fernsehkritiken und postum veröffentlichten Romanfragmenten, liegt geschlossen vor: „Es ist eine Welt, gegen die Welt zu halten.“ Der Suhrkamp Verlag versammelt nun zu den Gedenktagen alle kürzeren Erzähltexte seines Nachkriegsklassikers in einem Band – Der Kampf mit der Katze. Jene „Katze Erinnerung. Unabhängig, unbestechlich, ungehorsam“ ist gemeint, mit der Uwe Johnson seiner Arbeit ein Bild gab.
Neues wird das mit dem Werk vertraute Publikum darin nicht finden, das kommt dann im Herbst mit einem weiteren Briefband aus der umfangreichen Korrespondenz: Nach den bereits vorliegenden Briefwechseln mit Hannah Arendt, Siegfried Unseld, Max Frisch, Fritz J. Raddatz sowie Günter und Anna Grass folgt der schriftliche Austausch mit Hans Magnus Enzensberger.
Die Korrespondenzen bilden ein Werk neben dem Werk, denn in seinen Briefen und Postkarten ist Johnson als pointiert humorvoll wie faktengierig erkennbar. Der Austausch mit Walter Kempowski beweist das: Der Band Kaum beweisbare Ähnlichkeiten zeigt die Kollegen in Höchstform und die bis zur Ehrfurcht gesteigerte Bewunderung, mit welcher der fünf Jahre ältere Kempowski dem Jüngeren begegnete.
„Ich würde Sie auch gerne einmal besuchen, lieber Herr Johnson, aber ich habe immer etwas ‚Schiß’ vor Ihnen. Sie haben so etwas Strenges an sich“, schreibt er im Mai 1979 nach England. Saß hier noch immer ein tiefer Stachel? Nachdem der gebürtige Rostocker Kempowski in ausführlichen Anmerkungen seine Bewunderung für Johnsons Jahrestage ausgedrückt hatte, erhielt er die Einschätzung des Kollegen zum Typoskript seines Romans Uns geht’s ja noch gold; Johnson zerpflückte ihn unnachgiebig: „Solange das Buch in diesem Zustand ist, sollte dem Verfasser von einer Veröffentlichung abgeraten werden.“
Das war er, Johnsons berüchtigter, schneidend-bissiger Belehrton. Später bekannte Kempowski, dass der Kollege für ihn nicht zu den „angenehmen Menschen“ gehörte: „Er war verschlossen, wortkarg, mürrisch, auch unduldsam.“ Lockerheit in Privatem war bekanntlich nicht Johnsons Stärke, das haben viele berichtet, die mit ihm zusammenkamen.
Aber der Mecklenburger konnte auch sanfter sein, und dass er gelegentlich über großen Humor verfügte, ist unübersehbar, zum Beispiel in seinen Briefen an Anna Grass, „eine[r] von beiden Seiten außerordentlich liebenswürdige[n] Korrespondenz, mit spürbar herzlichen Themen“, so der Herausgeber Arno Barnert. Das beweist auch die „Rechenschaft über zwei Reisen“ an das mit ihm befreundete Ehepaar Sabine und Klaus Baumgärtner in Stuttgart. Schon der Titel Sofort einsetzendes Geselliges Beisammensein lässt den hier vorherrschenden kauzigen Ton ahnen.
1972 und 1973 ist Johnson besuchsweise zurückgekehrt in jenes Leipzig, das er einst als Student geschätzt hatte. Hier hatte er die Freunde gefunden, die ihm schließlich den Umzug in den Westen empfohlen hatten. Als er nun einen von ihnen besucht, erhalten die Baumgärtners genaue Rechenschaftsberichte. Herausgeber Klaus Baumgärtner sieht in den vier ausführlichen Schreiben launige Dokumente einer Zeitreise „zurück in die eigene Biographie […], in ein lange entbehrtes Eldorado von Freundschaft, Rückhalt, Verständnis und Einmütigkeit“.
Wie sehr Uwe Johnson seine Herkunftslandschaft im Herzen trug, lässt sein Schaffen an vielen Stellen erkennen. Erinnerung als „eine der wichtigsten Funktionen des Erzählens“ ist sein großes Motiv. In seinem Hauptwerk, den Jahrestagen, begibt er sich mittels einer Jahreschronik für den Zeitraum vom 20. August 1967 bis 19. August 1968 auf die Suche nach dem Leben der nun in New York wohnenden Gesine Cresspahl und danach, „was in der Vergangenheit sie in ihren gegenwärtigen Zustand gebracht hat“, so in einem Brief an Siegfried Unseld im März 1971. Das Tagebuchgerüst des Romans mit seinem Verweben aktueller New York-Bezüge und der Erinnerungen an Gesines Familiengeschichte in Mecklenburg stieß zunächst bei vielen Kritikern und Lesern auf Ablehnung. Heute gilt die Tetralogie auf der Suche nach deutscher Geschichte längst als ein zentrales Ereignis der Nachkriegsliteratur.
In Das Mecklenburg des Uwe Johnson hat sich Anja-Franziska Scharsich aufgemacht. Ihre mit heutigen schwarz-weißen Landschaftsfotografien illustrierte Einführung nähert sich dem Autor in seiner Heimat, die später auch für die „tatsächlichen Erfindungen“ vieler seiner Bücher die Kulisse abgab. Johnsons Absicht, anhand eines für den Roman verwandelten „tatsächlichen Lebens“ individuelles Verhalten und persönliche Mitverantwortung am Gang deutscher Geschichte darzustellen, kann so zwar nicht sichtbar gemacht werden. Einen hilfreichen Einstieg in seine Welt liefert das hervorragend gestaltete Bändchen allemal.
Welche Wirkung dieser Autor noch lange nach seinem Tod auf Kollegen und Kritiker hat, dokumentiert umwerfend der voluminöse Band Johnson-Jahre: Die Anthologie versammelt für die Zeit von 1956 bis 2002 Zeugnisse von Schriftstellerinnen und weiteren Personen des öffentlichen Lebens. Neben mancher Kritik an Johnsons Werk („sterbenslangweilig“, „humorlos“, „kann kein Deutsch“, „unökonomisch formloses Erzählen“) finden sich hier zahlreiche Erinnerungen an den unnahbar Aufrichtigen, die dessen außergewöhnlichen Rang bezeugen. Heinrich Bölls Reaktion auf den Tod Uwe Johnsons berührt bis heute: „Seine Größe war die Einheit von Geduld und Trauer, die Einheit von Empfindsamkeit, Zorn und Genauigkeit; im einzig möglichen Sinn nahm er seine Zeit wahr. Spätere Zeiten erst werden seine Größe wahrnehmen.“
Zum Weiterlesen:
Mutmassungen über Jakob. 1959/2009 (Faksimile der Erstausgabe). 308 Seiten, 15 €
Begleitumstände. Frankfurter Poetikvorlesungen. 1980. 453 Seiten, ca. 7 €
Jahrestage. 2008. 1728 Seiten, 25 € (TB)
Der Kampf mit der Katze. 2009. 600 Seiten, ca. 24,80 € (erscheint im August)
„fuer Zwecke der brutalen Verstaendigung“. Der Briefwechsel Uwe Johnson – Hans Magnus Enzensberger. 2009. 350 Seiten, ca. 24,80 € (erscheint im Oktober)
Der Briefwechsel Uwe Johnson – Anna und Günter Grass. 2007. 231 Seiten, 22,80 €
Johnson-Jahre. Hrsg. von Uwe Neumann. 2007. 1270 Seiten, 48 €
Alle im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.
Kaum beweisbare Ähnlichkeiten. Der Briefwechsel Uwe Johnson – Walter Kempowski. Transit Verlag, Berlin 2006. 143 Seiten, 14,80 €
Sofort einsetzendes Geselliges Beisammensein. Rechenschaft über zwei Reisen. Transit Verlag, Berlin 2004. 119 Seiten, 14,80 €
Anja-Franziska Scharsich und Angelika Fischer (Fotos), Das Mecklenburg des Uwe Johnson. Edition AB Fischer, Berlin 2008. 47 Seiten, 10 €
Michael Borrasch, geboren 1963 in Bremen, lebt als Kulturarbeiter in Ravensburg. Er war u.a. Mitbegründer der „Freunde toller Dichter“ und gastiert als Rezitator mit diversen Programmen zu Autoren des 20. Jahrhunderts. Über Uwe Johnson spricht er am 21. Juli um 19.30 Uhr im Stuttgarter Schriftstellerhaus bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Literaturblatt.