Doch wer zahlt in Zukunft, was es im Internet kostenlos geben soll?
Von Gunther Nickel
Wäre es nicht ein Segen, wenn man sich alle Bücher im Internet herunterladen könnte, durch einen bloßen Mausklick und ohne etwas bezahlen zu müssen? Die Vorstellung ist von großem Reiz: Nie mehr in eine Bibliothek fahren und Leihfristen beachten müssen! Man hat sämtliche Literatur sofort und platzsparend verfügbar! Wer sollte gegen einen solchen Fortschritt ernsthaft die Stimme erheben? „Freies Usen für freie Bürger“ fordert daher im Blog der Wochenzeitung Die Zeit eine sich so radikal wie unverschämt gebärdende Pseudonyma und dankt der in Kalifornien ansässigen Firma Google, die seit 2004 sieben Millionen Bücher gescannt hat und frei im Netz verfügbar macht.
Sie lesen längere Texte jedoch gar nicht gern am Bildschirm? Bekennen Sie dergleichen bloß nicht in einem einschlägigen Internetforum. Sofort wird es Ihnen neunmalklug entgegenschwallen: „Dann drucken Sie sich die Texte künftig eben selbst aus.“ Manche Copyshops bieten tatsächlich schon an, aus einer Datei mit Hilfe einer „Espresso Book Machine“ in Windeseile ein Buch herzustellen.
Das Faszinierende der Idee des an jedem Computer dieser Welt vollständig verfügbaren Wissens verliert rapide an Charme, sobald man sich diese schöne neue Internetwelt nicht nur von der Seite des Nutzers, sondern auch von der des Produzenten all der nutzbar gemachten Inhalte ansieht. Ein Schriftsteller, der drei Jahre an einem Roman gearbeitet hat, wird nämlich durch eine Publikation seines Textes im Internet um den Lohn geprellt, der bislang berechtigterweise winkt, wenn der Roman so gut ist, dass ihn viele lesen wollen. Und das gilt auch für die Autoren von bereits erschienenen Büchern, die nach deutschem Urheberrecht vor unerlaubter Vervielfältigung geschützt sind, die Google aber trotzdem ins Internet stellt.
Die Freunde dieses freizügigen Umgangs mit den Arbeitsergebnissen anderer finden rechtliche Beschränkungen nur lästig und verweisen darauf, die unendlichen Weiten des Internets ließen sich doch ohnehin nicht kontrollieren, das habe der vergebliche Kampf der Musikindustrie gegen die unerlaubte Verbreitung von Musiktiteln zur Genüge bewiesen. Sie empfehlen den Autoren, jetzt schon freiwillig auf ein neues „Geschäftsmodell“ umzusteigen, denn über kurz oder lang bleibe ihnen sowieso nichts anderes übrig. Die allen Ernstes sogar von professoralen Medienexperten wie Norbert Bolz propagierte Handlungsempfehlung sieht folgendermaßen aus: Ein Schriftsteller stellt seinen neuen Roman gleich nach Fertigstellung gemeinfrei im Internet zur Verfügung. Taugt er etwas und findet größere Verbreitung, so wird der besagte Schriftsteller – ganz klar – berühmt. Diesen Ruhm kann er dann zu Geld machen: durch Lesungen, durch den Verkauf signierter Luxusausgaben seiner Werke, durch kostenpflichtige Fan-Seiten im Internet oder noch andere pfiffige, neue Ideen. Da sei jetzt eben, so Bolz und andere, Kreativität gefragt.
Es ist gar nicht nötig, komplizierte Berechnungen vorzunehmen, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass sich auf diese Weise der Beruf des Schriftstellers kaum ausüben lässt. Was sich bei einer Erfüllung der konsumistischen Wünsche nach freier Zugänglichkeit von Texten klar und deutlich abzeichnet, ist eine vollständige Entprofessionalisierung der Literaturproduktion. Sie wird sich rasant und erheblich qualitätsmindernd bemerkbar machen.
Von dieser Entwicklung sind im übrigen nicht nur Schriftsteller betroffen, sondern auch Übersetzer, Lektoren, Korrektoren, Hersteller, Grafiker, Fotografen, Journalisten, Buchhändler und Verleger. Sie alle erzielen, sobald die Ergebnisse ihrer Arbeit kostenlos ins Internet gestellt werden, keine Einkünfte mehr und müssen sich dann nach anderen Erwerbsquellen umsehen. Eine weitere Folge ist, dass wir zwar alles, was sich digitalisieren lässt, umsonst bekommen, aber das Niveau dessen, was da zu bekommen ist, immer mehr zu wünschen übrig lassen wird.
Die damit einhergehende Auslöschung einer diversifizierten Publikationslandschaft dient weder dem Gemeinwohl noch ist es gerecht, Produzenten immaterieller Güter im Vergleich zu anderen Produzenten derart zu benachteiligen. Aus diesem Grund wurde in Deutschland im 19. Jahrhundert das Urheberrecht eingeführt. Sein Sinn und Zweck bestand und besteht darin, Autorinnen und Autoren über das Resultat ihrer eigenen Arbeit souverän verfügen zu lassen, damit sie bei der Vergabe von Nutzungsrechten eine angemessene Beteiligung an den wirtschaftlichen Erlösen aushandeln können.
Nicht wenige Internet-Fans plädieren für die Abschaffung solcher Hindernisse eines freien Textverkehrs. Und sie loben den Suchmaschinenbetreiber Google, weil er auch viele vergriffene Bücher, an denen ja doch nichts mehr verdient werde, wieder verfügbar mache und den Autoren sogar noch etwas dafür zahle: 60 Dollar pro Titel sowie 63 Prozent aller Einnahmen, die sich künftig mit dem jeweiligen Titel erzielen lassen. Und 63 Prozent seien doch viel mehr als jene mageren 10 Prozent, die Autoren in der Regel als Honorar von Verlagen bekämen.
Das ist natürlich eine Milchmädchenrechnung. Denn zu klären wäre zunächst: 63 Prozent von was? Diese Frage lässt sich derzeit aber nicht beantworten, weil Google noch nicht verrät, welche Gebühren von wem für welche Leistungen erhoben werden sollen. Die branchenüblichen 10 Prozent beziehen sich dagegen immer auf den Nettoladenpreis der gebundenen Ausgabe. Ein Autor, dessen Buch 19,90 Euro kostet, kann mit 1,86 Euro pro verkauftem Exemplar rechnen (19,90 Euro minus 1,30 Euro Mehrwertsteueranteil von 7 Prozent gleich 18,60 Euro; davon 10 Prozent). Wird eine Auflage von 5 000 Exemplaren abgesetzt, sind das in der Summe vor Steuern 9 300 Euro. Dass auch nur annähernd vergleichbare Einkünfte bei Google zu erzielen sind, ist trotz der weit höheren prozentualen Beteiligung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Bei Google denkt man an Mikrozahlungen, die man kaum merken soll, also vielleicht 30 Cent pro Download (das wäre schon viel). Davon würde der Rechteinhaber 63 Prozent erhalten, das wären 19 Cent. Bei 5000 Downloads ergibt das den Betrag von 950 Euro. Um dem Autor die gleichen Erträge wie bei der traditionellen Verbreitung seines Textes durch ein Buch zu bescheren, müsste ein Download folglich mehr als 3 Euro kosten, und das wird er bestimmt nicht, weil die Konkurrenz der illegalen Tauschbörsen einen solchen Preis zuverlässig verhindert. Denn dort kann man einen bei Google einmal downgeloadeten Text sofort wieder uploaden – und danach muss niemand mehr etwas zahlen.
Nicht nur simples Beobachten der schon üblichen Praxis und einfaches Nachrechnen lässt es erstaunlich erscheinen, welchen seltsamen Illusionen über das Internet im allgemeinen und Google im besonderen sich manche User hingeben. Denn dem längst marktbeherrschenden Konzern geht es selbstverständlich keineswegs um Informationsfreiheit, sondern um ein Monopol zum Zweck der Profitmaximierung. Wer im Internet etwas suchen möchte, soll es bei Google suchen, und er wird es umso eher dort suchen, je reichhaltiger die Ergebnisse sind, die ihm dort geboten werden. Die so erzielte Kundenbindung macht Google dauerhaft zu der mit weitem Abstand attraktivsten Plattform für Werbung, mit der sich viel Geld verdienen lässt. Darum geht es Google in erster Linie.
Ein Monopol als kostenloser Anbieter des Wissens der Welt würde Google erlauben, seinen Werbekunden Preise zu diktieren. Darüber hinaus ließe sich noch mehr Informationspolitik betreiben als bislang. So wird von Google schon jetzt in China der Zugriff auf Nachrichten über die politische Lage in Tibet verwehrt, weil das die chinesische Regierung so wünscht. Es ist auch immer noch Googles großes Geheimnis, wann der Link auf eine Website auf den Trefferlisten zu bestimmten Suchbegriffen nach oben katapultiert wird und wann er im Nirwana der Datenmassen unter „ferner liefen“ rangiert. Es liegt zudem im Belieben von Google, seine Geschäftsusancen irgendwann zu ändern, sich etwa vorteilhafte Platzierungen bezahlen zu lassen. Es handelt sich eben nicht um einen Verein, der an eine Satzung gebunden wäre, oder eine staatliche Einrichtung mit einem gesetzlichen Auftrag, sondern um ein börsennotiertes Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von rund 70 Milliarden Dollar.
Wäre ein staatliches Monopol denn besser? Diese Frage stellt sich ganz unabhängig von Google durch die Forderungen, die die „Open Access“-Bewegung par ordre du mufti durchsetzen will. Sie beziehen sich auf die Publikationen von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, die mit Mitteln der öffentlichen Hand erarbeitet wurden. Entstanden ist die Idee zu „Open Access“ (offener Zugang), um die Kommunikationsgeschwindigkeit zu erhöhen und weil die Kosten für Forschungspublikationen in den sogenannten STM-Fächern (Science, Technology, Medicine) derart gestiegen sind, dass Bibliotheken sie immer weniger bezahlen können. Es wurden daher Internetplattformen gegründet, die den Wissenschaftlern die Möglichkeit bieten, ihre Arbeiten online zu publizieren. In Disziplinen mit hoher Innovationsgeschwindigkeit ist dieser Weg zweifellos sinnvoll und zukunftsweisend.
Inzwischen haben sich die großen forschungsfördernden Einrichtungen in Deutschland jedoch darauf geeinigt, ausnahmslos alle Wissenschaftler zur „Open Access“-Publikation zwingen zu wollen. In einer Presseerklärung vom 25. März 2009 heißt es ganz unmissverständlich: „Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen fordert eine für den Leser entgeltfreie Publikation (Open Access) […] von Forschungsergebnissen, die durch den Einsatz öffentlicher Mittel und damit zum Nutzen der Forschung und Gesellschaft insgesamt erarbeitet wurden.“ Eine solche Forderung ist aber nicht nur grundgesetzwidrig, sondern auch sachlich unsinnig. Nicht alle Veröffentlichungen sind im Internet gleichermaßen gut aufgehoben. Für germanistische Editionen und dickleibige Monografien ist das Buch schon allein aus ergonomischen Gründen nach wie vor das weitaus bessere Medium.
Vertreter der „Open Access“-Bewegung erwidern dreierlei, wenn man auf die großen Unterschiede zwischen geistes- und naturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten hinweist: Erstens wolle nicht jeder umfangreiche Monografien ganz lesen; man könne in Zukunft also im Internet kopieren, was man brauche, und müsse sich mit dem Rest nicht belasten. Zweitens sei es jedem unbenommen, seinen Text nach der Online-Publikation auch noch als Buch zu veröffentlichen. Drittens würden die Ergebnisse von Wissenschaftlern in der Regel von der öffentlichen Hand bezahlt, müssten also der Öffentlichkeit auch unentgeltlich zugänglich gemacht werden.
Diese Argumente greifen indes zu kurz: Erstens wird kein Verleger sich noch eines Textes annehmen und in ihn investieren wollen, wenn er bereits kostenlos im Internet zu bekommen ist. Wird eine Internet-Publikationspflicht für Wissenschaftler durchgesetzt, bedeutet sie vermutlich das Aus für die meisten wissenschaftlichen Verlage. Damit verschwände aber auch das Buch als wissenschaftliches Medium. Zur Publikation im Internet gäbe es dann keine Alternative mehr. Zweitens kostet eine „Open Access“-Publikation keineswegs nichts. Es entstehen im Gegenteil beträchtliche Kosten, weil man Hard- und Software benötigt und auch Personal, das sich um die Dateneingabe und -pflege kümmert. Da – drittens – diese Kosten durch den Staat getragen werden sollen, entscheiden über Publikationen künftig bürokratische Gremien, die über limitierte, staatlich zugeteilte Etats verfügen. Die Publikationsmöglichkeit ist dann unmittelbar abhängig von Machtverhältnissen innerhalb universitärer Selbstverwaltungen. Das mit dem Namen „Open Access“ verbundene Freiheitsversprechen ist daher reiner Etikettenschwindel. „Open Access“ fördert gerade nicht freies Publizieren, sondern eine weitaus stärkere Reglementierung des Publikationswesens als bislang.
Viertens droht eine gigantische Kostenexplosion: Niemand kann derzeit seriös abschätzen, was künftig an Beträgen aufgewendet werden muss, um die Archivierung fragiler digitaler Daten langfristig sicherzustellen. Doch mit ihrer Sicherung ist es allein noch gar nicht getan, denn sie müssen auch lesbar bleiben. Wer sich die Entwicklung der Speichermedien und Programme allein in den letzten zwanzig Jahren vergegenwärtigt, wird kaum zu versprechen wagen, dass die Zugänglichkeit sämtlicher digitaler Daten über einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren problemlos möglich sein wird.
Am Ende verwundert – fünftens –, warum durch Zwang durchgesetzt werden soll, was doch angeblich so viel besser ist. Setzen sich bessere Produkte nicht normalerweise ganz von alleine durch? Stecken hinter der Forderung nach „Open Access“ möglicherweise ganz andere Interessen, zu denen hier nur zwei Stichworte genannt werden können: Bologna-Prozess und Exzellenzinitiative? (Weiterführendes dazu findet sich in dem dieses Jahr bei Suhrkamp erschienenen brillanten Traktat des Bamberger Soziologen Richard Münch: Globale Eliten, lokale Autoritäten)
In Internetforen wird wieder und wieder behauptet, die illegale Digitalisierung von Büchern durch Google und der Versuch, „Open Access“-Publikation von Wissenschaftlern zu erzwingen, hätten nichts miteinander zu tun und dürften auf keinen Fall in einen Topf geworfen werden. Beide Entwicklungen haben aber zweierlei gemeinsam: Zum einen werden Urheber der Verfügungsrechte über das von ihnen Geschaffene beraubt. Zum anderen verschleiert die freie Zugänglichkeit von Texten im Internet, dass nichts von dem kostenlos hergestellt werden kann, was dort kostenlos angeboten wird. Die euphorisierten Apologeten des World Wide Web kümmert das jedoch nicht im Geringsten. Befürchtungen, die Bedingungen einer künftigen Wissens- und Literaturproduktion könnten sich durch die Zerstörung historisch gewachsener Strukturen der Öffentlichkeit drastisch verschlechtern, begegnen sie kurzerhand mit abstrakten Freiheitsproklamationen für ihre Partikularinteressen.
Man muss um der Freiheit des restlos enthemmten „Usens“ willen Rechtsverstöße im Internet keineswegs hinnehmen wie schlechtes Wetter. Es gibt ganz einfache und sehr wirksame Mittel und Wege, den dort gern gepflegten Anarchismus in gemeinverträglichen Grenzen zu halten. Wenn Provider oder die Betreiber von Internetportalen nicht in der Lage sind, ihr „Geschäftsmodell“ so zu gestalten, dass es im Einklang mit der bestehenden Rechtsordnung funktioniert, dann kann man ihre Selbstbedienungsläden auch schließen. Das zu tun oder zu lassen ist nichts weiter als eine Frage des ordnungspolitischen Willens.
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Einen Appell an die Politik, die Publikationsfreiheit sicherzustellen und die Urheberrechte zu wahren, hat das Heidelberger Institut für Textkritik initiiert. Er findet sich im Internet unter der Adresse http://www.textkritik.de/urheberrecht/index.htm. Dort kann man den Appell auch unterschreiben.
Gunther Nickel lehrt als Privatdozent Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mainz und ist als Lektor für den Deutschen Literaturfonds e.V. in Darmstadt tätig. Zuletzt veröffentlichte er Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“. Materialien, Dokumente, Interpretationen.