Wie Sibylle Lewitscharoff Bruddeln in Literatur verwandelt
Von Gunther Nickel
Man mochte es, als sie es publik machte, erst gar nicht glauben: Als Schülerin gehörte die gebürtige Stuttgarterin Sibylle Lewitscharoff, die frisch gekürte Gewinnerin des Leipziger Buchpreises 2009, einer trotzkistischen Splittergruppe an und studierte die Werke von Karl Marx mindestens so intensiv und andächtig wie strenggläubige Pietisten die Bibel oder gottesfürchtige Islamisten den Koran. Den Namen dieser „revolutionären Zelle“ dürfte außerhalb von Stuttgart-Degerloch kaum jemand gekannt haben. Aber auch in Degerloch spielten die „Spartacus Bolschewiki-Leninisten“ zweifellos nur ein randständiges Dasein. Wenn sie heute überhaupt noch einer kennt, dann eben nur, weil eine der sprachmächtigsten zeitgenössischen Autorinnen der Bundesrepublik ihr einmal angehört und jüngst in der Süddeutschen Zeitung darüber einen autobiografischen Bericht veröffentlicht hat.
Auch in dem neuen Roman Apostoloff kommt diese Episode aus ihrem Leben zur Sprache. Wie einst sie selbst war dessen Hauptfigur in ihrer adoleszenten Phase ziemlich revolutionär gestimmt. Und da das Buch überdies eine einzige Abrechnung mit dem bulgarischen Nationalcharakter im allgemeinen und einem bulgarischen Vater im besonderen darstellt, der – wie Lewitscharoffs eigener bulgarischer Vater – durch Selbstmord aus dem Leben schied, ist eine autobiografische Lektüre naheliegend. Sie griffe allerdings viel zu kurz. Um diese Einschätzung zu begründen, genügt vielleicht schon als erster Hinweis, dass Lewitscharoff keine Schwester hat, die Erzählerin ihres Romans dagegen sehr wohl, eine putzmuntere sogar.
Elemente aus Lewitscharoffs Autobiografie lieferten für Apostoloff lediglich Material, in diesem Fall das Material zu einer Kunst des Schimpfens. Auf 248 Buchseiten wird dabei vor allem eines gezeigt: Selbst Zetern lässt sich geschmeidig modulieren, Boshaftigkeit genüsslich zelebrieren, sogar eine Hasstirade, und sei sie noch so unerbittlich, mit rankenden Verzierungen schmücken. Je länger, erbarmungsloser und giftiger die Erzählerin dieses Buchs stichelt, lästert und polemisiert, desto lustvoller gerät die Lektüre. Selbst einem Straßenköter gibt sie kein Pardon: „Miezmiez, sage ich zu einem Hund, da sich mein Bedürfnis, die Bulgaren lächerlich zu machen, auch auf ihre Hunde erstreckt.“
Die skurrile Handlung – die Rückführung der Leichname von neunzehn Exilbulgaren aus Stuttgart in ihr Heimatland in einem Konvoi schwarzer Limousinen – ist mit der scharf forcierten Spottlust dicht verwoben. Doch immer wieder verselbstständigt sich die Suada von der Rahmenhandlung. Wichtig ist dann einzig und allein noch, wie rücksichtslos und im wahrsten Sinne des Wortes treffend gesagt wird, was gesagt wird. Zum Beispiel dies: „Die osmanische Herrschaft, krähe ich fröhlich in Ohren, die das bestimmt nicht hören wollen: das Beste, was den Bulgaren je widerfahren ist!“
Ein Roman wie Apostoloff könnte nicht gelingen, besäße seine Autorin neben Wort- und Situationswitz nicht auch ein gehöriges Maß an gefestigter Bildung. So hat Lewitscharoff ihr Wissen um den nicht mimetischen Charakter von Sprache wohlweislich auch ihrer Protagonistin geliehen, die damit während einer öden Autofahrt nicht lange hinterm Berg hält: „Nehmen wir einmal an, Gott sage spezifisch. Da darf es in einem Engelhirn nicht allzulang rappeln, bis es alle möglichen Varianten von Spezi und Fisch samt den in der Bibel auftauchenden Fischvorkömmnissen überprüft hat und zu dem Schluß gekommen ist, daß Fische als Hering, Sardine, Thunfisch quasi nur im Nebenher, als fröhlicher Begleitschwarm durch die das Wörtlein tragende Luftmenge schwimmen.“
Diese Passage enthält in nuce die Lizenz zum Lästern. Sprache, besagt sie nämlich, folgt ganz eigenen Regeln, und was mit ihr bezeichnet wird, hat mit der außersprachlichen Wirklichkeit mitunter gar nichts mehr zu tun. Deshalb verbietet sich grundsätzlich, ganz besonders aber bei der Lektüre dieses Romans, die Gleichsetzung von Fiktivem mit Realem. Über Fiktives darf man höhnen und spotten, so viel man will, denn bei sachgemäßem Umgang kann dabei niemand verletzt werden.
Der kurze Abschnitt ist darüber hinaus ein Indiz für das rege Interesse Lewitscharoffs an allen Fragen der christlichen Mythologie. Und weil sich die studierte Religionswissenschaftlerin auf diesem Gebiet sehr gut auskennt, lässt sie ihre Erzählerin das vorgetragene Beispiel der engelsfleißigen Ausdeutung eines einzigen Gotteswortes mit folgender Begründung gleich wieder kassieren: „Vernachlässigt werden darf zwar das Problem vom wörtlich Wörtlichhören, aber nicht das Problem vom fehlenden Beweis, daß Gott klipp und klar Deutsch spricht. Oder Latein oder Griechisch oder Hebräisch.“ Damit ist die Sache fast, wenn auch noch nicht ganz erledigt, denn bei der Frage, welche Sprache Gott spricht, ist für die Erzählerin eines klar: „Ausgeschlossen werden kann aber Bulgarisch. Bulgarisch auf keinen Fall!“
Hier kommt auf dem kurzen Raum von nicht einmal einer halben Buchseite eine Menge zusammen: erstens die bildkräftig in Szene gesetzte Darstellung eines sprachphilosophischen Problems, zweitens eine indirekte Legitimation des mit dem Roman verfolgten ästhetischen Programms, und obendrein ist das Ganze auch noch sehr komisch. Das macht Lewitscharoff so schnell keiner nach, zumal sie dieses Niveau von der ersten bis zur letzten Seite durchhält.
Lewitscharoffs Romane unterscheiden sich stofflich sehr stark voneinander. Eines hat jedoch auch ihr neuer Roman mit allen ihren anderen Büchern gemeinsam: Im Mittelpunkt stehen bei ihr immer mehr oder weniger exzentrische Sonderlinge. Der Protagonist in Pong (1998) ist wahnsinnig; jener in Montgomery (2003) als Sohn eines Italieners und einer Schwäbin ein sozialer Außenseiter; die Hauptfigur Ralph Zimmermann in Consummatus (2006) ein dem Alkohol verfallener, Stimmen aus dem Jenseits hörender Lehrer; und nun besticht die Erzählerin in Apostoloff mit einer so erfrischenden Aufrichtigkeit, dass sie die Grenze zur Beleidigung wieder und wieder mühelos überschreitet.
Das betrifft, man kann es gerade im Literaturblatt nicht verschweigen, auch ihr gespaltenes Verhältnis zu Stuttgart und seiner Umgebung. Von „grauenhaft breiigen Filderorten“ ist da die Rede, deren „verkommener Architektur, den Straßenschneisen, dem verhäuselten Kleingrund mit Ziergehölz und Garage, der Betonhütte als Mülltonnenversteck, in die zu Schmuckzwecken Kieselsteine eingedrückt sind“. Eine Liebeserklärung an die schwäbische Heimat klingt anders.
Der beleidigten Schwabenseele bleibt indes nicht nur der schwache Trost, dass Bulgarien noch viel schlechter wegkommt. Denn die radikalisierende Einseitigkeit in allen Urteilen ist für dieses Buch in zu hohem Maße kennzeichnend, als dass man sie ignorieren könnte. Sie hat zweifellos in biografischen Verletzungen ihren Grund. In schlechter Literatur gäben sie Anlass für betroffenheitstrunkene Bekenntnisse. Lewitscharoff geht es dagegen nicht ansatzweise um Wirklichkeitsabbildung, mit oder ohne kritischen Unterton. Nicht Realismus oder gar Naturalismus ist ihr Ziel, sondern Verschiebung, Verdichtung, Artikulation, Ausdruck.
Ausgangspunkt ist in ihren Büchern zunächst immer eine Abweichung von der Realität. So schimmert in der Hauptfigur von Montgomery zwar auch das Alter Ego Lewitscharoffs durch. Aber indem sie aus der Schriftstellerin einen Filmproduzenten macht, den bulgarischen Vater durch einen italienischen ersetzt und anstelle von Berlin, wo Lewitscharoff seit vielen Jahren lebt, Rom als Schauplatz wählt, werden die Koordinaten völlig andere. Derart transformiert kann der Stoff erst wie ein Werkstück bearbeitet werden.
Die Verschiebungen in Apostoloff gehen weniger weit; erstmals wählt Lewitscharoff sogar eine weibliche Erzählstimme. Aber das Prinzip der Umwandlung von Wirklichkeit in eine fiktive Konstellation ist nicht preisgegeben. Es bleibt die Voraussetzung für eine immer wieder ins Groteske oder in hybride Phantasmagorien gesteigerte Überzeichnung, für die es keine Vorbilder mehr in der Wirklichkeit gibt, sondern nur in der Literatur, allen voran bei Franz Kafka, dem wichtigsten von Lewitscharoffs literarischen Hausheiligen.
Zum Weiterlesen:
Pong. Berlin Verlag, Berlin 1998. 144 Seiten, 14,90 € (btb 8,90 €)
Montgomery. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart / München 2003. 352 Seiten, 19,90 € (btb 9,50 €)
Consummatus. Deutsche Verlagsanstalt, München 2006. 240 Seiten, 18,90 €
Apostoloff. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009. 248 Seiten, 19,80 €
Gunther Nickel lehrt als Privatdozent Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mainz und ist als Lektor für den Deutschen Literaturfonds e.V. in Darmstadt tätig.
Am 14. Mai spricht Gunther Nickel im Stuttgarter Schriftstellerhaus über Sibylle Lewitscharoff.