„Gut ist, das gesezt ist“

Zum Abschluss von Dietrich Sattlers Hölderlin-Edition

 

Von Manfred Koch

 

Die Geschichte der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (FHA) hat Züge einer Heldentragödie. Ein Außenseiter begehrt gegen die institutionalisierte Wissenschaft auf, wird von den Fachgelehrten mit Schimpf und Häme bedacht, bis man erkennt, dass er Außerordentliches leistet. Als fast alle sein Loblied singen, verführt seine Leidenschaft ihn zu tollkühnen Taten, die sogar frühere Weggefährten irritieren. Am Ende weiß man nicht, welches Bild bei der Würdigung seines Lebenswerks überwiegt: der wegweisende Erneuerer oder der Extremist, der zu viel wollte und zuletzt auch die sinnvollen Grenzen überschritt.

Dietrich Eberhard Sattlers 1975 begonnenes Projekt einer Neuedition sämtlicher Hölderlin-Texte war eine Provokation. Ein philologischer Laie – Sattler war Werbegrafiker – tat sich mit dem Verlag „Roter Stern“ des ehemaligen Frankfurter SDS-Vorsitzenden KD Wolff zusammen, um einen Autor zu edieren, den die universitäre Germanistik gerade zu dieser Zeit erstmals vollständig in einer unüberbietbar zuverlässigen Textgestalt zu präsentieren vorgab. 1977 standen, nach vierunddreißig Jahren Arbeit, alle Hölderlinwerke (soweit sie nicht verlorengegangen sind) in Friedrich Beissners Stuttgarter Ausgabe (StA) kritisch aufbereitet zur Verfügung. Zwar gab es in der Hölderlin-Forschung auch entschiedene Kritik an Beissners Editionspraxis, am deutlichsten in der Auseinandersetzung um die 1954 entdeckte Hymne „Friedensfeier“. Man ging aber davon aus, dass der bei Hölderlin unvermeidliche Streit um Datierungsfragen, die Einstufung von Fassungen, die Zuordnung von Bruchstücken etc. in Zukunft grundsätzlich anhand der Stuttgarter Ausgabe geführt werden müsste. Sattler aber wollte Beissner nicht einfach nur korrigieren oder ergänzen, sondern ihn – wie er martialisch verkündete – „ablösen“, indem er das Editionsprinzip der StA insgesamt verwarf. Beissners Trennung eines Textbandes, der die Dichtungen in „gereinigter“, möglichst abgeschlossener Form darbietet, von einem Apparatband, der ihre Vorstufen und Varianten wiedergibt, war in seinen Augen irreführend. Ein erheblicher Teil von Hölderlins sogenanntem Spätwerk der Jahre 1800 bis 1806, in denen seine bedeutendsten Texte entstanden, liegt nämlich nicht in autorisierten Drucken oder Reinschriften vor, sondern nur in Manuskripten, die aufgrund zahlreicher Korrekturen und Neuansätze des Autors extrem unübersichtlich sind. Um solchen Handschriften eine lesbare Gedichtfassung zu entnehmen, bedarf es weitreichender editorischer Präparierung. Kann man, so Sattlers berechtigte Frage, angesichts dieser Blätter tatsächlich säuberlich scheiden zwischen einer definitiven Gestalt des Gedichts beziehungsweise Prosastücks und bloßen „Lesarten“, die in einen separaten Band ausgegliedert werden? Wird dem Leser von Beissners „gereinigten“ Texten nicht das Wichtigste, die Dynamik des Hölderlinschen Schreibprozesses, unterschlagen? Schon anfangs des 20. Jahrhunderts hatte der Hölderlin-Herausgeber Franz Zinkernagel die editorisch beste Lösung langfristig darin gesehen, die nachgelassenen Hölderlin-Manuskripte in Form von Faksimiles der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Leser sollte „den Widerstreit der handschriftlichen Varianten selber überschauen“ können.

Sattler machte ernst mit dieser Überlegung. Dienen in herkömmlichen Ausgaben einige wenige Faksimiles als bloße Schmuckstücke, so besteht Sattlers FHA in erster Linie aus den Faksimiles der Handschriften. Eine typografisch differenzierte Umschrift auf der gegenüberliegenden Seite ermöglicht auch Nichtspezialisten die Entzifferung – „typografisch differenziert“ heißt: die verschiedenen Entwurfsschichten werden mit drei verschieden fetten Typen wiedergegeben. Es folgt eine Darstellung der Textgenese. Am Ende steht auch bei Sattler ein linear nachvollziehbarer Lesetext, der in den problematischen Fällen, in denen es weder Reinschrift noch Druckfassung gibt, aus den Manuskripten „konstituiert“ beziehungsweise „rekonstruiert“ wird, so dass es fraglich bleibt, ob er wirklich Hölderlins Intention entspricht. Da der Benutzer die Entscheidungen des Herausgebers aber jederzeit selbst am handschriftlichen Befund überprüfen kann, haben die Lesepräparate der FHA eher den Status von Vorschlägen. Sattler will ja den Blick weg vom Gedicht als „statisches Endprodukt“ hin zur „Werkstatt des Dichters“ lenken. Das Editionsmodell, schreibt er folgerichtig, setze auf Leser, „die bereit sind, selbständig und beharrlich zu lesen“, den Weg zwischen bewegtem Manuskript und abgeschlossener Textgestalt immer wieder hin und her zu gehen.

 

Ein Versuch also, Philologie in Reinform, mit dem Optimum an Buchstabentreue, zu verwirklichen, und zugleich ein Appell an verständige, kritische Leser. Ihren Erfolg verdankte die FHA jedoch vor allem der eigentümlichen Verbindung dieses rationalen mit einem religiösen Moment. Die Handschrift wurde zur Offenbarungsquelle. Sinnlich erfahrbar schien sich hier für alle, die willens waren, ein neuer Zugang zum Eigentlichsten, Geheimsten der faszinierenden Hölderlintexte aufzutun. Sattlers öffentliches Auftreten war von Beginn an auf solch mythische Bedeutsamkeit angelegt. In seinen Reden figurierten die etablierten Hölderlinforscher als Priesterkaste, die die Wahrheit unter Verschluss hielt; er selbst war offenbar der inspirierte Prophet, der berufen war, dem Volk das Wort zurückzuerstatten. Der Außenseiter inszenierte sich wirkungsvoll als verfemter Häretiker, wobei ihm zugute kam, dass die zünftige Germanistik in den ersten Jahren tatsächlich nur mit peinlichen Abwehrreflexen reagierte. Heute, da jeder seriöse Hölderlin-Interpret die FHA zu Rate ziehen muss (was nicht heißt, dass die anderen Ausgaben hinfällig geworden wären), sieht man genauer als in den Schlachten der 70er und 80er Jahre, dass Sattler weder so revolutionär noch so verfolgt war, wie es phasenweise den Anschein hatte: Die typografische Umschrift von Faksimiles hatten Wolfgang Binder und Alfred Kelletat schon 1959 in ihrer „Friedensfeier“-Edition erprobt (das grafische Genie Sattler hat sie allerdings erheblich verfeinert); den törichten Verdammungen von germanistischer Seite stand die fast einhellige Begeisterung in den Feuilletons gegenüber; das anfangs privatwirtschaftliche, hochriskante Unternehmen wurde ab 1978 mit öffentlichen Geldern gefördert.

Das Schillern zwischen editorischer Akribie und messianischem Pathos blieb charakteristisch für die FHA. Dass die meisten Bände überzeugen und mittlerweile aus der Hölderlinforschung nicht mehr wegzudenken sind, ist wesentlich auch das Verdienst der hochkompetenten Germanisten, die Sattler als junge Mitarbeiter gewann, um sich nach einiger Zeit regelmäßig mit ihnen zu überwerfen: Wolfram Groddeck, Michael Franz, Michael Knaupp, Hans Gerhard Steimer. Die Tragödie der FHA liegt darin, dass Sattler sich ausgerechnet bei der Edition der wichtigsten Hölderlin-Texte – des sogenannten hymnischen Spätwerks, das programmatisch erst als Schlussstein der Ausgabe präsentiert werden sollte – von seinem Messianismus überwältigen ließ und, offensichtlich unberaten, einen völlig neuen Weg einschlug. In den Bänden 7/8 aus dem Jahr 2000 werden die späten Hymnen („Gesänge“) „chronologisch-integral“ dargeboten. Hölderlins Schreiben wird hier gleichsam zu einem einzigen Fluss, in dem die vertrauten Gedichte nurmehr als „Segmente“ eines anwachsenden „kumulativen“ Übertextes erscheinen. Zusammengehörige Entwürfe zu einer Hymne werden um der Chronologie willen auf weit auseinanderliegende Segmente verteilt; der Leser blättert ratlos hinterher. Wo es um die Begründung seiner Einteilung und Verknüpfung der Abschnitte geht, insistiert Sattler geradezu manisch auf einer nur ihm erschließbaren höheren Bedeutung von Tintenflecken, Wischspuren und Papierunreinheiten. Der jetzt erschienene Abschlussband der FHA überträgt das chronologisch-integrale Editionsverfahren auf das Gesamtwerk. Der bleibende Eindruck ist Chaos. Man kann zweifellos immer noch viel aus diesen Bänden lernen, ob sie den Anspruch einer historisch-kritischen Ausgabe erfüllen, ist aber eher fraglich. Im Bestreben, Hölderlins Werk in einen letztlich von ihm komponierten monumentalen Über-Gesang zu verwandeln, musste Sattler an seiner größten Aufgabe scheitern.

 

Trotz alledem: Der Außenseiter hat Maßstäbe gesetzt, hinter die die Editionspraxis des 21. Jahrhunderts nicht mehr zurückfallen darf. Sattler ist in Deutschland der eigentliche Stifter einer glücklichen Verbindung von Philologie und Typografie. Was er in den 70er Jahren, als alle Welt noch vor der Kugelkopfschreibmaschine saß, an Textdarstellungsverfahren entwarf, kann im Zeitalter der Computer- und Scannertechnik unendlich weiter verfeinert und perfektioniert werden. Nach dem Vorbild der FHA werden mittlerweile drei andere große Verstörte der deutschen Literatur ediert: Kleist, Kafka und Robert Walser. Im Stroemfeld-Verlag, Basel – ursprünglich ein Ableger und seit 1993 Nachfolger des in Konkurs gegangenen Roter-Stern-Verlags – erscheinen außerdem Kritische Ausgaben von Johann Peter Hebel, Gottfried Keller und Georg Trakl (um nur die Prominentesten zu nennen).  Der originär linke, basisdemokratische Impuls, die Dichter aus den Trutzburgen der Archive und Forschungsstätten herauszuholen und in ihrer „reinen“, ursprünglichen Gestalt dem Volk zu übergeben, hat bis heute nichts von seiner Faszination verloren, auch wenn diese (nicht billigen) Riesenausgaben kaum in Privathaushalten auftauchen. Aber sie werden gelesen, und gar nicht einmal in erster Linie von Philologen oder dem klassischen „gebildeten“ Publikum, sondern von sprichwörtlich Begeisterten, häufig aus poesie- und wissenschaftsfernen Berufen. Diese neue Art von Buchstaben-Enthusiasmus unter den Lesern der deutschen Literatur verbreitet zu haben, gehört zu den bleibenden Verdiensten von Dietrich Sattler.

 

D. E. Sattler und KD Wolff werden für ihre Hölderlin-Ausgabe mit dem 15. Antiquaria-Preis für Buchkultur ausgezeichnet. Die Preisverleihung findet am Abend des ersten Messetages der 23. Antiquaria statt, am Donnerstag, 29. Januar um 20.15 Uhr, im Podium der Musikhalle Ludwigsburg. Die Laudatio hält Gunter Mertens, Hamburg.

 

Zum Weiterlesen:

 

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von D. E. Sattler. 20 Bände und 3 Supplements. Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. / Basel 2008 (Die komplette FHA kann man noch bis Ende März 2009 zum Subskriptionspreis von 2350 Euro statt 2762 Euro über jede Buchhandlung bestellen.)

Leseausgabe in 12 Bänden. Luchterhand Literaturverlag, München 2004. 2976 Seiten, 99 Euro

 

 

Manfred Koch, Jahrgang 1955, ist freier Publizist, unter anderem für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung, und Dozent für Neuere deutsche Literatur an der Universität Basel.