Hegels außergewöhnliche Schwester
Von Alexandra Birkert
Manchmal wäre es leichter gewesen, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, ein Porträt von ihr zur Hand zu nehmen und in ihren Gesichtszügen zu forschen: Besaß sie denselben glasklaren, ja durchdringenden Blick wie ihr Bruder? Hatten sich die Höhen und Tiefen eines alles andere als alltäglichen Lebens in ihr Gesicht eingegraben? Wirkte sie auf den Betrachter heiter oder melancholisch, selbstsicher oder verstört, dynamisch oder leidend?
Die Rede ist von Christiane Luise Hegel (1773-1832), der Schwester des Philosophen. Als einzige seiner drei Schwestern hat sie das Säuglingsalter überlebt und ist mit ihm herangewachsen. Sie war drei Jahre jünger als der berühmte Erstgeborene der Familie und drei Jahre trennten sie auch von ihrem jüngeren zweiten Bruder, der zunächst Kaufmann wurde und als württembergischer Offizier 1812 im Russlandfeldzug Napoleons viel zu früh sein Leben lassen musste.
Eher zufällig bin ich auf Hegels Schwester aufmerksam geworden. Doch dann hat mich ihre Lebensgeschichte nicht mehr losgelassen. Denn schon das Wenige, das zu ihrer Biografie bisher bekannt war, ließ auf ein außergewöhnliches Schicksal schließen: Der frühe Verlust der Mutter im Alter von zehn Jahren, die unglückliche Liebe zu einem Mann, die sie aus der Bahn geworfen haben soll, das Schmuggeln von Kassibern auf die Festung Hohenasperg zur Zeit der Stuttgarter „Jakobiner“-Verfolgungen, die dreizehnjährige Anstellung als Gouvernante im Hause des Freiherrn von Berlichingen zu Jagsthausen, der einjährige Aufenthalt in Württembergs erster staatlicher „Irrenanstalt“ in Zwiefalten und der Selbstmord nach dem Tod des Bruders. Mosaiksteine einer Biografie, die viele Fragen aufwirft – und deren Details und Zusammenhänge sich im Dunkel der Geschichte verlieren. Denn von ihr selbst haben wir kaum noch Schriftliches in Händen. Vieles wurde gar nicht erst aufgehoben, hat sich verloren oder ist später von Hegels Familie und Nachkommen aussortiert worden, wie etwa die Gedichte, die sie geschrieben hat. Vom umfangreichen Briefwechsel mit dem Bruder und dessen Frau Marie ist nur ein schmaler Teil aus dem letzten Drittel ihres Lebens erhalten, Christianes Briefe lassen sich dabei an einer Hand abzählen. Der überlieferte Briefwechsel setzt gerade zu dem Zeitpunkt ein, als sie das erste Mal nachweisbar psychisch erkrankte. Es muss also nicht verwundern, wenn das Bild der Schwester des Philosophen den Stempel der Gemütskranken, ja Geisteskranken trägt. Auch das ist ein Teil ihrer Geschichte.
Doch wie sah das Leben der jungen Christiane Hegel aus? Wer war der Mann, in den sie so unglücklich verliebt war? Warum nannte Hegels erster Biograf nicht dessen vollen Namen, machte nur geheimnisvolle Andeutungen zu seiner Person? Basierte ihre Angstvorstellung im Alter, als Postpaket verschnürt und verschickt zu werden – wovon uns übrigens Justinus Kerner erzählt –, auf den Verfolgungen und Verschleppungen zu Beginn des Jahres 1800, als der Mann ihrer besten Freundin, der Vater des Dichters Wilhelm Hauff, unter der Anschuldigung revolutionärer Machenschaften für Monate auf den Hohenasperg gesteckt wurde? Oder hatte sie selbst gar etwas damit zu tun? Fragen über Fragen.
Einige wenige Aufsätze und Artikel sind ihr bisher gewidmet worden. Der Schriftsteller Hellmut G. Haasis hat sich in den 1990er Jahren mit einem Theaterstück, das nicht aufgeführt wurde, einem Hörspiel und in Form der literarischen Performance darum bemüht, Aufmerksamkeit auf ihre Lebensgeschichte zu lenken. Doch angesichts der dürftigen Materiallage musste vieles hier wie dort notgedrungen im Bereich der Spekulation bleiben. Auch das hat meine Neugierde geweckt. Sollte es nicht doch möglich sein, mehr über das Leben dieser Frau zu erfahren, das sich offensichtlich nicht nur darin erschöpfte, Schwester des großen Philosophen zu sein?
So habe ich mich auf die Suche nach ihren Lebensspuren begeben. Sie gestaltete sich äußerst spannend, wurde fast zu einer Kriminalgeschichte. Was in Archiven und Bibliotheken, auf einem Dachboden und im Schlosskeller zutage kam, macht es nun möglich, eine Frau wieder zu entdecken, die völlig zu Unrecht hinter ihrem berühmten Bruder „verschwunden“ ist, schnell abgetan wurde mit dem Stigma von Wahnsinn und Selbstmord. Hoch begabt und kontaktfreudig wie sie war, stand Christiane Hegel mit vielen bekannten Zeitgenossen aus Literatur und Kunst in Verbindung – Friedrich Hölderlin war dabei nur einer von vielen. Als junges Mädchen hatte sie das Glück, dass ausgerechnet der Mann in ihr Elternhaus kam, der sich damals wie kein anderer in Stuttgart für eine breit gefächerte Mädchen- und Frauenbildung stark gemacht hat: Schillers geliebter Carlsschullehrer Jakob Friedrich Abel, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband. Neben ihrer außergewöhnlich gebildeten, aber leider viel zu früh verstorbenen Mutter wird sie in erster Linie ihm ihre Bildung, ja ihre „Ansprüche auf Gelehrsamkeit“ zu verdanken gehabt haben, die ihr später von einem Vetter zum Vorwurf gemacht wurden. Ihre Bildung ermöglichte es ihr auch, im Haus des „Schöngeistes“ Joseph Freiherr von Berlichingen als Erzieherin und Lehrerin für dessen fünf Töchter engagiert zu werden – eine Aufgabe, die sie sich übrigens über Jahre mit dem Komponisten Friedrich Silcher teilte.
Nicht von ungefähr hat sie im Herbst 1801 die württembergische Residenzstadt Stuttgart verlassen und die Anstellung im idyllischen Jagsthausen gewählt: Damals waren die freiherrlichen Besitzungen derer von Berlichingen noch exterritoriales Gebiet, zählten noch nicht zu Württemberg – erst 1806 erlangte der mit Napoleons Gnaden zum König aufgestiegene württembergische Regent Friedrich im Zuge der Mediatisierung die Landeshoheit darüber. Bis zum Tod des Vaters zu Beginn des Jahres 1799 hatte Christiane Hegel im Elternhaus in der Langen Gasse in Stuttgart gewohnt und sich um ihn gekümmert, denn beide Brüder lebten und arbeiteten damals in Frankfurt. Während dieser Zeit stand sie in Kontakt mit ehemaligen Studienfreunden ihres Bruders, unruhigen Köpfen der Stuttgarter Hofmeisterszene, die von der Errichtung einer Süddeutschen Republik träumten. Doch mit der Verhaftungswelle Anfang 1800 wurden alle Hoffnungen zunichtegemacht. Dass die Frauen in dieser frühen Phase südwestdeutscher Revolutionsbegeisterung und konspirativer Aktivitäten als potenzielle Mitwisserinnen gleichfalls gefährdet waren, zeigen unter anderem die Akten der herzoglichen Untersuchungskommissionen. Darin findet sich auch der Name Georg Wilhelm Friedrich Hegel.
Dank neu aufgefundener Quellen lässt sich nun weitgehend nachvollziehen, wie es zur Einlieferung der 47-jährigen Christiane Hegel in die Staatsirrenanstalt Zwiefalten im Frühjahr 1820 gekommen ist und wie ihr Alltag – als Privatpatientin in der Wohnung des „Irrenmeisters“ Fischer – aussah. Auch wissen wir jetzt besser Bescheid, wie es um ihren Gesundheitszustand bestellt war und wie die Diagnose des behandelnden Arztes lautete, der sie nach fünfzehn Monaten als geheilt entließ. So kann man wenigstens ansatzweise die Lücke in der Überlieferung des Briefwechsels zwischen den Geschwistern gerade in dieser Zeit füllen – Christiane hat ihrem Bruder Wilhelm, wie wir wissen, damals heftige Vorwürfe über das erlittene „Unrecht“ gemacht.
Nach ihrer Entlassung kehrte Hegels Schwester wieder in ihre Heimatstadt Stuttgart zurück. Sie ließ sich als Privatlehrerin nieder und konnte sehr schnell wieder Fuß fassen. Auffallend fürsorglich kümmerten sich Hegel und seine gut zwanzig Jahre jüngere Frau Marie aus dem fernen Berlin nun um sie, schickten Geld, Kleidungsstücke, Nachrichten vom Gedeihen der beiden Söhne. Nichts spricht in den bisher weitgehend unveröffentlichten Briefpassagen der beiden Frauen dafür, dass Christiane auf ihren Bruder „fixiert“ und unbändig eifersüchtig auf die junge Schwägerin gewesen sei, wie vielerorts in der Hegel-Forschung zu lesen ist. Nein, weder Christiane Hegels Selbstmord wenige Wochen nach dem Tod des Bruders noch die jäh umschlagende Stimmung der Witwe Hegel gegen sie haben etwas mit einem „Geschwisterkomplex“ zu tun, wie neu entdeckte, aber auch bisher unbeachtete Quellen verraten. Diese belegen darüber hinaus, dass Christianes Testament durch die Erbeinsetzung von Hegels unehelichem Sohn Ludwig Fischer – in ganz anderer Weise als bisher angenommen – ein Familiendrama heraufbeschworen und mit dazu beigetragen hat, dass der Mantel des Vergessens über Hegels Schwester ausgebreitet wurde.
Die Suche nach den Lebensspuren der Christiane Luise Hegel hielt manche Überraschung bereit. Anhand vieler neu aufgefundener Mosaiksteine können wir uns nun ein facettenreiches Bild von ihrer Persönlichkeit machen. Es ist das Bild einer außergewöhnlichen Frau, die völlig zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Vielleicht, so hoffe ich, lässt sich ja eines Tages doch auch noch ein Bildnis von ihr finden?
Alexandra Birkert, Jahrgang 1957, lebt und arbeitet als freie Historikerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin in Stuttgart. Sie war Mitarbeiterin am Deutschen Literaturarchiv Marbach und lange Jahre in der internationalen Alfred-Döblin-Forschung tätig. Am 1. September erscheint ihr Buch Hegels Schwester. Auf den Spuren einer ungewöhnlichen Frau um 1800 im Jan Thorbecke Verlag (352 Seiten, 24,90 Euro).
Am 25. September führen Alexandra Birkert und Irene Ferchl in der Reihe „Nahaufnahmen“ in der Esslinger Stadtbücherei ein Gespräch über Literatur, Landesgeschichte und vergessene Persönlichkeiten.