Über Franz Kafka und diverse Neuausgaben
Von Michael Borrasch
Drei Verlage bestimmen im deutschen Sprachraum die Verbreitung und Interpretation von Kafkas Werk und Leben. S. Fischer als Stammhaus der deutschen Textausgaben, Wagenbach als Ort der selbsternannten „dienstältesten lebenden Kafka-Witwe“ namens Klaus Wagenbach sowie – seit 1995 – Stroemfeld mit der Faksimile-Edition sämtlicher zugänglicher Dokumente im Rahmen einer Historisch-Kritischen Ausgabe.
Nachdem Roland Reuß und Peter Staengle, Literaturwissenschaftler an der Universität Heidelberg, ihre Arbeit als Herausgeber des letztgenannten Großprojekts aufgenommen hatten, entwickelte sich in der Fachwelt ein gehöriger Sturm. Immerhin hatten die beiden nicht weniger gewagt, als den Verantwortlichen der seit 1990 erschienenen kritischen S. Fischer-Ausgabe vorzuwerfen, durch die redaktionelle Herstellung von Lesetexten dem Charakter von Kafkas handschriftlichem Nachlass nicht zu entsprechen. Lange Zeit stand es daraufhin schlecht um ihr Vorhaben. Die Bodleian Library in Oxford, in der ein Großteil der Kafka-Manuskripte verwahrt wird, verweigerte Reuß und Staengle zunächst den Zugriff. Denn Malcolm Pasley, bis zu seinem Tod für Kafkas Erben als Nachlassverwalter in der englischen Universitätsstadt tätig, war gleichzeitig Mitherausgeber der Fischer-Edition. Erst längere Verhandlungen brachten dem Stroemfeld-Team ein ungestörtes Arbeiten, doch dessen Bemühen um Sicherung aller Handschriften stellte sich Ende 2006 eine weitere Hürde in den Weg. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) lehnte einen Förderantrag über eine Million Euro zur Finanzierung der Arbeit an dem noch viele Jahre dauernden Vorhaben ab. Daraufhin initiierten mehrere renommierte Editions- und Literaturwissenschaftler einen Protestbrief, weitere rund 500 Wissenschaftler und Autoren aus aller Welt erklärten sich solidarisch. Den Querelen zum Trotz arbeitet der Stroemfeld Verlag unverdrossen weiter an seiner Edition, soeben erschienen die Bände 3 & 4 der in Oxford liegenden Oktavhefte Kafkas, unter anderem enthalten sie den berühmten „Bericht für eine Akademie“ sowie den „Jäger Gracchus“ und „Ein altes Blatt“.
Mitten in den Endvorbereitungen zu einer von ihm und seinem Kollegen Peter Staengle verantworteten Kafka-Ausstellung, die noch bis Januar 2009 in der Heidelberger Universitätsbibliothek zu sehen ist, nahm sich Roland Reuß die Zeit für das folgende Gespräch.
Was zeigen Sie in Ihrer Kafka-Ausstellung?
Reuß: Wir beschäftigen uns in unserem Projekt weniger mit Biografischem als mit den Strukturen des Schaffensprozesses. Wie schrieb Kafka, wie gelangte er damit an die Öffentlichkeit? In 42 Vitrinen werden etwa 240 Exponate gezeigt: einige Manuskripte aus Marbach, etwa ein Brief an Milena Jesenská oder das „Dorfschullehrer“-Heft, aus der Oxforder Bodleian Library Kopien dort liegender Texte und Dokumente sowie zahlreiche Widmungsexemplare, darunter Kafkas eigenhändig signiertes Exemplar von Hebels Schatzkästlein für den Rezitator Ludwig Hardt. Es geht uns vor allem darum darzustellen, was aus den Handschriften im Druck geworden ist. Kafka selbst hatte damit ja so seine Schwierigkeiten.
Die Ausstellung realisieren Sie parallel zum Erscheinen des nächsten Bandes Ihrer Stroemfeld-Edition. Zu welchem Zeitpunkt entwickelten Sie das Konzept der Faksimile-Ausgabe?
Die ersten Ideen stammen schon aus den 1980er Jahren. Spätestens in den frühen 90er Jahren wunderten wir uns, das heißt der Verleger KD Wolff, Peter Staengle und ich, dass der S. Fischer-Verlag nicht das realisiert hatte, was uns vorschwebte. Uns interessierte einfach die Arbeit des Autors an seinen Texten, was und insbesondere wie er geschrieben hat, der Schreibprozess in den Manuskripten. Und weil das Werk des publikationsscheuen Autors zum weitaus größten Teil handschriftlich überliefert ist, wollten wir die Originale sichern und der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Neben der digitalen Sicherung der originalen Schriftträger begründen Sie Ihre Edition mit einer Neueinschätzung der Textlage. Ihre Process-Ausgabe macht das deutlich, indem sie die bisher als Roman lesbare Anordnung auflöst.
Wir wissen sicher, dass Kafka sich über die Gestalt seines Romans überaus unsicher war, als er davon abließ, an ihm zu schreiben. Die Manuskripte geben viele Rätsel auf, sie sind Kafkas literarisches Experimentierfeld. Wir wollen es aber nicht besser wissen als er selbst. Vorwürfe, wir würden mit der Faksimilierung einen unnötigen Aufwand betreiben, greifen nicht. Der Kern unserer Methodik besteht ja gerade in der direkten Überlieferung der Schriftträger, ohne interpretierende Varianten oder Streichungen. So wird Kafkas Arbeitsprozess erst wirklich erkennbar. Leseausgaben sind für einen ersten Einstieg durchaus sinnvoll, für eine tiefergehende wissenschaftliche Beschäftigung taugen sie aber nichts.
In den ersten Jahren nach Beginn Ihrer Edition gab es etliche Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Lagern. Was hatte es mit den Faksimile-Plänen bei S. Fischer auf sich? Wollte man dort plötzlich Ähnliches wie Sie?
Das weiß ich nicht, doch wenn dem so war, hat man es bald ad acta gelegt. Im übrigen hat es meines Wissens zwischen den Verlagen Stroemfeld und S. Fischer nie eine Auseinandersetzung gegeben, sie pflegen eine gute kollegiale Beziehung. Etwas anderes sind die Anfeindungen früherer Editoren, die mit dem Erscheinen unserer Ausgabe damit konfrontiert waren, ihren vermeintlichen Monopolanspruch auf Kafka zu verlieren. Alle, die sich mit Kafka beschäftigen, sollten eigentlich zusammenhalten, und ich habe die Hoffnung, dass das auch die anfänglichen Skeptiker mittlerweile zu ihrer Maxime machen.
Was ist aus Ihrer Kritik an der DFG wegen der dort abgelehnten Förderung Ihrer Arbeit geworden? Sie hatten ja eine breite Unterstützung von Fürsprechern.
Inzwischen ist glücklicherweise die Kulturstiftung des Bundes in die Finanzierung des Projektes eingestiegen. Von dort erhalten wir in den nächsten zwei Jahren Fördermittel. Außerdem wird es wohl Unterstützung von offiziellen ausländischen Stellen geben. Und wir führen derzeit Gespräche über das Zustandekommen eines Förderkonsortiums, mit dessen Hilfe wir die Arbeit in der restlichen Zeit dann realisieren können. In etwa zehn Jahren wollen wir das Projekt abschließen.
Stichwort Oxford: dürfen Sie nun alle dort liegenden Originale als Faksimile veröffentlichen?
In Oxford erfahren wir inzwischen größtes Entgegenkommen, man unterstützt uns in allen Belangen. Wir arbeiten hervorragend zusammen, konnten dort auch schon ein wissenschaftliches Kolloquium und eine Ausstellung unserer Arbeit realisieren. Im Zuge der Kooperation stellen wir unser Scan-Material den Oxforder Kollegen zur Verfügung.
Wie erklärt sich die ungewöhnliche grafische Gestaltung Ihrer Ausgabe?
Beim Farbkonzept sind wir von den slawischen Farben Weiß, Rot und Blau ausgegangen. Die von Band zu Band variierende Gestalt des Einbandes soll nicht nur einen modernen Autor „einkleiden“, sondern auch den Werkstattcharakter seines Schreibens illustrieren. Mit der gewählten Schrift, einer humanistischen Grotesk, haben wir uns zudem ganz bewusst dagegen entschieden, Kafka als Klassiker zu behandeln. Mit unserer Ausgabe soll weiter gearbeitet, agiert werden. Der Gebrauchswert steht gegenüber dem Repräsentationswert im Vordergrund. In diesem Sinne wollen wir dem interessierten Leser oder Wissenschaftler dienen.
Wenn man sich intensiv mit den verschiedenen Editionsprinzipien beschäftigt, vergisst man fast, worum es eigentlich geht. Wo findet denn der Leser Reuß in Kafkas Werk die größten Reize?
Das unglaublich Komische an Kafkas Entwürfen und Texten ist mir gerade bei der Arbeit an den Oktavheften 3 & 4 wieder aufgefallen. Natürlich gibt es den dunklen, deprimierenden Kafka, keine Frage. Aber der lustige existiert eben auch. „Bericht für eine Akademie“, „Ein Brudermord“ oder „Schakale und Araber“ – bei solchen Texten kann ich manchmal gar nicht mehr aufhören mit dem Lachen.
Keine Frage, die aufwendige Reuß-Staengle-Edition liefert Authentizität bis an den Rand des Möglichen, den leichteren Lesefluss ermöglicht hingegen die Lektüre der Textbände innerhalb der S. Fischer-Ausgabe. Diese offeriert freilich häufig eine Form und Anordnung, die die Entwürfe des Autors so nicht immer hergeben. Das betrifft den „Process“-Text, aber auch die diversen von Kafka genutzten Schreibhefte.
Ein Beispiel: Zum 125. Geburtstag legt S. Fischer die längere Zeit vergriffenen Tagebücher neu auf. Zwölf von Kafka genutzte und überlieferte Quarthefte aus den Jahren 1910-1923 enthalten tagebuchähnliche Aufzeichnungen, allerdings merken die Herausgeber an, „dass einzelne Hefte den Charakter eines Tagebuchhefts nur zeitweilig besaßen“. Die Kritische Ausgabe liefert einen Schuber mit drei Bänden: Text, Kommentar und Apparat, der von Überlieferung und Entstehung berichtet sowie textkritische und -genetische Informationen enthält. Die laut Verlag wesentliche Veränderung findet sich im überarbeiteten Kommentar.
Die Stroemfeld-Edition widmet sich der Überlieferung der Quart- wie der Oktavhefte und damit auch den tagebuchartigen Notaten in grundsätzlich anderer Form. Schon im Einleitungsband schrieb Reuß 1995: „Der Kafkasche Nachlaß sträubt sich der bequemen Einordnung in die herkömmlichen Gattungsschemata. Mit Ausnahme der unter dem Namen der ‚Drucke zu Lebzeiten’ versammelten Texte […] handelt es sich bei dem, was von Kafka überliefert ist, um eine Zusammenführung verschiedenartiger literarischer Entwürfe und ausgeführter Texte, […] die teils biographischen, teils literarischen […] Interessen entspringen. Es war daher nur eine der Zeit geschuldete Maßnahme, zu der Brod griff, als er die überlieferten Oktavhefte nicht zur Gattung der ‚Tagebücher’ rechnete.“ Demgegenüber bringe die Stroemfeld-Ausgabe „möglichst kompromisslos den Gedanken eines Primats der Schriftträger zur Geltung: die Quarthefte, die Oktavhefte etc. werden je als einzelne integral ediert“.
Das bedeutet tatsächlich nichts anderes als eine Außerkraftsetzung der bisher bekannten Werkstrukturen, die Max Brod als der erste Nachlassverwalter seines verstorbenen Freundes zur Etablierung von dessen Schaffen konstruierte. Auch Reiner Stach weist in Die Jahre der Erkenntnis, dem nun vorliegenden zweiten Teil seiner monumentalen Kafka-Biografie, auf die Versäumnisse Brods hin, wenn er in Bezug auf die Edierung der Oktavhefte schreibt: „Es ist – nach den ungeordneten Heften des Process-Manuskripts – die zweite schwere Prüfung, die Kafka seinen künftigen Editoren hinterließ, eine Aufgabe, an der dann Max Brod auf lehrreiche Weise scheitern sollte.“
Reuß / Staengle fügen ihrer Faksimileüberlieferung sämtlicher Schriftträger in Originalgröße auf der jeweils gegenüberliegenden Seite eine gedruckte diplomatische Umschrift bei. Diese „kann und will nicht an die Stelle der Handschrift treten, sie gibt eine Lese- und Entzifferungshilfe. Diplomatisch heißt sie, weil sie sich weigert, zugunsten eines vermeintlich besseren, ‚reibungsloseren’ Lesevorgangs Glättungen an den überlieferten Zeugnissen vorzunehmen.“ So aufrichtig sich dieses Verfahren gegenüber dem Autor und seinen Texten auch verhält, eines verfolgt es eben nicht: die flüssig lesbare Aufbereitung. Gleichwohl fasziniert der Blick „über Kafkas Schulter“ hinein in seine Arbeitshefte.
Apparat-Band oder Faksimile-Fassung: Der einerseits leicht nachvollziehbare Anspruch der Editoren begibt sich andererseits in einen Bereich der Philologie, den nur noch der spezialisierte Kafka-Wissenschaftler oder der unersättliche Leser betreten mag. Umso erstaunlicher, dass sich selbst Reiner Stach bisweilen (selbst-)kritisch über den aktuellen Stand der Forschung äußert. Trägt er doch mit seiner in allen Verästelungen von Kafkas Vita detektivisch nach Zusammenhängen suchenden Arbeit ebenfalls zum sich ständig erweiternden Gesamtbild bei: „Kein Autor am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts – und am wenigsten wohl Kafka selbst – hätte sich vorstellen können, dass seine schriftliche Hinterlassenschaft alsbald vermessen, fotografiert und beschrieben würde, als handele es sich um Papyrusrollen aus einer ägyptischen Grabkammer.“
Auf über 700 Seiten bereitet Stach Kafkas letzte zehn Lebensjahre zwischen 1914 und 1924 vor uns aus. Wie schon mit dem ersten Teil gelingt ihm dabei erneut eine beeindruckende Annäherung. Sein Konzept des Ineinandergehens von faktenreichem biografischem Erzählen, literaturkritischer Beurteilung und mancher Neubewertung bemüht sich ausführlich um die verstärkte Erdung eines lange entschwebten Heiligen der Literaturgeschichte. Kafkas Erleben des Ersten Weltkriegs, seine inneren Kämpfe um die Verlobte Felice Bauer, seine für die Freunde anstrengende Dickköpfigkeit, den Ausbruch seiner schließlich tödlichen Tuberkulose oder den kurzen Absprung Richtung Berlin schildert und bewertet Stach in höchstmöglicher Dichte und unter Verzicht auf nebulöse Interpretation. So wird weitere Legendenbildung vermieden, Kafkas Kämpfe am Schreibtisch und um ein Werk werden deutlicher als bisher. Eingezwängt zwischen dem eigenen außerordentlichen Anspruch, realer Not und verbliebener Hoffnung ist Kafka als ein Mann seiner Zeit zu erkennen.
Zum Weiterlesen:
Franz Kafka, Tagebücher. Kritische Ausgabe. Text, Apparat und Kommentar. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 1849 Seiten im Schuber, 225 Euro
Franz Kafka, Oktavhefte 3 & 4 (2 Bände). Historisch-Kritische Ausgabe. Stroemfeld Verlag, Frankfurt/Basel 2008. Je ca. 200 Seiten mit Franz-Kafka-Heft 6 und CD-Rom, 98 Euro
Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 729 Seiten, 29,90 Euro
Michael Borrasch, geboren 1963 in Bremen, lebt als Kulturarbeiter in Ravensburg. Er war Mitbegründer der „Freunde toller Dichter“ und gastiert als Rezitator mit diversen Programmen zu Autoren des 20. Jahrhunderts, unter anderem Franz Kafka.