Zwischen Tradition und Innovation

 

Ein Gespräch über die Bedeutung von Bibliotheken heute und in Zukunft mit der Leiterin der Stuttgarter Stadtbücherei Ingrid Bussmann und ihrer Stellvertreterin Christine Brunner

 

Wie stehen Stuttgart und Baden-Württemberg in der deutschen Bibliothekslandschaft?

 

IB: Baden-Württemberg steht im Augenblick im bundesweiten Vergleich recht gut da. Mit über 800 kommunalen öffentlichen Bibliotheken hat Baden-Württemberg ein sehr leistungsfähiges Bibliothekswesen. Allerdings lebt jeder fünfte Bürger in einer Gemeinde ohne kommunale öffentliche Bibliothek. Besonders betroffen ist hier der ländliche Raum.

Sowohl der Landesverband Baden-Württemberg im Deutschen Bibliotheksverband als auch die Fachstellen für das öffentliche Bibliothekswesen bei den Regierungspräsidien in Baden-Württemberg setzen sich intensiv für eine nachhaltige Bibliotheksversorgung im Land  ein.

Sind die Gründe für das Problem finanzieller oder infrastruktureller Art?

 

IB: Leistungsfähige Bibliotheken zu unterhalten ist ein wichtiger Beitrag zur Daseinsvorsorge in den Kommunen und es gibt hervorragende Bibliotheken auch in kleineren Städten und Gemeinden. Aber gerade für Kommunen im ländlichen Raum ist es oft auch eine finanzielle Herausforderung, professionelle Bibliotheken zu unterhalten. Was in Baden-Württemberg noch optimiert werden könnte, ist der Ausbau von professionellen Schulbibliotheken.

Was ist denn in Ihren Augen eine gute, auszeichnungswürdige Bibliothek?

 

IB: Ganz sicher ist die Nähe zum Kunden, die Orientierung an den Interessen der Besucher, wichtig, natürlich ein gut strukturiertes, aktuelles Medienangebot, eine sehr gute Verankerung in der Kommune, das heißt, dass die Bibliothek präsent ist, ein Ort, wo die Leute gerne hingehen, dass sie selbstverständlicher Teil des kommunalen Lebens ist.

 

CB: Ich denke, wichtig ist die Vernetzung im Stadtteil mit den unterschiedlichsten Institutionen vor Ort, man darf da keine Berührungsängste mehr haben.

 

IB: Wichtig ist auch die Professionalität des Personals. Das wird für die Zukunft noch wichtiger, denn meine Prognose lautet, dass die Bedeutung von Bibliotheken als Ort der Vermittlung in hohem Maß zunehmen wird.

Da sind wir ja schon bei Medien und anderen Arten von Informationsträgern als nur Büchern …

 

IB: Wir sagen, Bibliotheken ermöglichen den Zugang zu Wissensquellen und das können gedruckte Bücher sein oder elektronische, Zeitungen oder Zeitschriften, Ressourcen im Internet, CDs, DVDs …

 

CB: Und die Experten, lebendige Menschen, wie auch verschiedenste Formen von Veranstaltungen, zu denen man jemanden schicken kann, um ein Thema zu vertiefen …

 

IB: Eine Aufgabe, die viele Bibliotheken inzwischen wahrnehmen, ist, Navigationshilfen im Bereich der elektronischen Quellen zu geben, das sind ja inzwischen nicht nur Internetdokumente, sondern auch die Datenbanken.

 

Trotzdem leihen die Leute noch Bücher aus, und zwar, wenn man die Statistiken ansieht, mehr denn je.

 

CB: Wir wundern uns auch, denn das Buch wird zwar immer totgesagt, aber jede Buchmesse meldet Rekordzahlen, die Buchproduktion steigt, und auch bei uns leihen die Leute immer noch und immer mehr Bücher aus.

 

Welche Bücher sind das, hat sich da etwas geändert?

 

IB: Spannend finde ich, dass der Bereich der Kinderliteratur seit Jahren steigt. Die Zahl der ausgeliehenen Kinderbücher ist bei uns im Vergleich zum letzten Jahr wieder um vier Prozent gestiegen. Das zeigt, dass sich Kinder durchaus motivieren lassen, Bücher zu lesen. Wir machen 2200 Programme für Kinder pro Jahr, in den Stadtteilbüchereien und in der Zentralbücherei, damit wird Motivation zum Lesen geschaffen, und die wirkt sich offensichtlich in einem Interesse an Büchern aus, ein sehr positiver Effekt. Ansonsten kann man bei den Themen, die ausgeliehen werden, immer einen deutlichen Bezug zu gesellschaftlichen Entwicklungen erkennen. Für mich sind Bibliotheken ein Seismograf für die Fragen, die die Menschen gerade bewegen. Wir haben in den letzten Jahren mit großem Erstaunen festgestellt, dass zum Beispiel philosophische Fragestellungen, Fragen, die sich um Werteorientierung drehen, zugenommen haben, also: Was in der Gesellschaft diskutiert wird, wird auch in der Bibliothek nachgefragt.

 

CB: Ein Trend ist auch, dass Schüler bei uns für ihre Hausarbeiten Materialien suchen, weil sie offenbar angehalten sind, dazu Bücher auszuleihen. Die Themen sind so exotisch, wie man es sich nur vorstellen kann, da gibt es alles querbeet, was die Kollegen gelegentlich schwer in Nöte bringt.

 

Das heißt, die Schüler recherchieren nicht nur im Internet?

 

IB: In der Regel sind die Schüler recht kompetent im Umgang mit dem Internet. Aber manchmal ist das Buch den Internetquellen überlegen. Außerdem ist es für die Schüler oft schwierig, aus der Fülle der Materialien die für sie geeigneten auszuwählen. Deshalb bieten wir jetzt in der Stadtbücherei Stuttgart Schülersprechstunden an, wo Kolleginnen mit den Schülern gemeinsam die infrage kommenden Informationsquellen sichten. Ziel ist, den Schülern Kriterien für die Auswahl zu vermitteln, es geht also ein Stück weit um Unterweisung in Lernmethoden und Informationskompetenz.

 

Ist das nicht eigentlich Lehreraufgabe und für Bibliotheken ein zusätzlicher Zeitaufwand?

 

IB: Ja schon, aber wir sind halt Experten bei der Recherche, das ist der Anspruch, den wir als Bibliothekare haben. Und die Zeit für die aktive Informationsvermittlung müssen wir uns auch wirklich nehmen. Nach meiner Meinung ist das die Zukunft. Die Bibliothek wird mehr und mehr der Ort, an den man sich mit seinen Fragen wendet, wenn man selbst nicht weiterkommt. Ich habe mal gesagt, da, wo Google aufhört, müssen wir einsetzen, das ist natürlich ein hoher Anspruch.

Hier zeigt sich, was sich verändert hat: Bibliotheken beschränken sich nicht auf die Bereitstellung von Informationsquellen, sondern sie tragen aktiv zur Vermittlung von Wissen bei. Dazu gehören die Angebote für die Schüler, aber auch das gesamte Veranstaltungsspektrum.

Sie bieten sogar Kurse an, wie man Mails schreibt ...

 

IB: Wir sprechen bei den Kindern und Jugendlichen von bibliothekspädagogischen Programmen. Auch die wissenschaftlichen Bibliotheken sind sehr stark in diesem Bereich der Informationsvermittlung engagiert, bieten Kurse an, in denen die Studenten erst einmal Informationskompetenz erwerben und lernen können, wie man recherchiert, mit den Bibliotheksressourcen umgeht. Das, was wir früher an der Universität als wissenschaftliches Arbeiten gelernt haben, wird heute teilweise von den Bibliotheken übernommen.

 

Das erweckt den Eindruck eines Großstadtprogramms, aber die Stadtteilbüchereien haben doch eine andere Funktion als die Zentralbücherei im Wilhelmspalais, oder?

 

IB: Nein, Großstadtthemen würde ich nicht sagen, denn die Vermittlungsangebote für Kinder und die Unterstützung der Schüler, das sind Angebote, die Bibliotheken heute flächendeckend leisten. Da gibt es den Bibliotheksführerschein, den Internetführerschein, Bilderbuchshows für Kinder oder auch die Rechercheportale. Das Großstadtspezifische ist, dass es Zentralbüchereien und Stadtteilbüchereien gibt, die zusammenspielen müssen und jeweils ihre eigenen Funktionen haben.

 

CB: Die Dienstleistungen, die wir anbieten, sind durch die digitale Vernetzung ganz einfach überallhin zu transportieren und wir haben einen gut funktionierenden Leihverkehr innerhalb der Stadt Stuttgart. Aber die Stadtteilbüchereien haben schon auch die Funktion einer Nachbarschaftsbibliothek, da sind die Kontakte noch etwas persönlicher, die Leute kommen vielleicht auch mit anderen Fragen als in der großen Zentralbibliothek. Die Büchereien sind auch außerhalb der Häuser überall präsent, auf Stadtteilfesten, Weihnachtsmärkten, in den Stadtteilrunden, bei den meisten Aktivitäten, die in ihrem Einzugsgebiet stattfinden.

 

IB: Die Wohnortnähe spielt für die Stadtteilbüchereien eine große Rolle und die Identifikation mit dem Wohnumfeld, in dem die Bibliothek Teil des Alltagslebens ist. Eine großstädtische Zentralbibliothek dagegen spricht eher Nutzer an, die gezielt mit konkreten Anliegen kommen, für die sie differenzierte Informationsquellen brauchen. Ein großes Haus ist immer anonymer, obwohl die KollegInnen hier viele der Nutzer kennen.

 

Und die Funktion der früheren Leihbüchereien, in denen man sich einfach Lesestoff besorgte, Unterhaltungsliteratur, gibt es das auch?

 

IB: Ganz klar, wir fokussieren unsere Rolle in den Bibliotheken insgesamt in dem Bereich Bildung und Kultur und ich denke, Unterhaltung gehört auch dazu, schon wegen des Moments der Entspannung, und es gibt hervorragende Unterhaltungsliteratur …

 

CB: Ein Lieblingsprojekt einiger KollegInnen ist zum Beispiel, vor Weihnachten oder den Ferien Bücherpäckchen als Urlaubslektüre zusammenzustellen, die dann als Überraschungspakete ausgeliehen werden.

 

CB: Mir bestätigen Kollegen, dass die Belletristiknutzung im Verhältnis zum Sachbuch wieder steigt, das heißt, da verändern sich wieder Interessen. Die Leute haben wohl wieder mehr Lust, zur Entspannung ein Buch zu lesen.

 

Kann man das nicht materiell begründen: Bücher sind teurer geworden und mehr Leute wollen oder können es sich nicht leisten, ein Buch für dreißig Euro nur zur einmaligen Lektüre zu kaufen?

 

IB: Ich höre oft, dass Leute sagen, sie schauen erst in der Bücherei, lesen das Buch und wenn sie das Gefühl haben, es noch einmal lesen zu wollen, gehen sie in die Buchhandlung, um es zu kaufen. Es gibt eine Statistik, die zeigt, dass Leute, die Bibliotheken nutzen, auch mehr Bücher kaufen als die anderen. Natürlich spielen die geringeren Einkommen auch eine Rolle, gerade bei Kinderbüchern, wo die Eltern längst nicht so viel kaufen können, wie ihre Kinder lesen. Der Kaufanreiz ist aber auch eine wichtige Funktion der Bibliotheken.

 

Vielleicht ist in den letzten Jahren auch Literatur allgemein präsenter geworden?

 

CB: Nicht zuletzt durch Elke Heidenreich und KollegInnen und die Präsenz im Fernsehen …

 

IB: Den Eindruck kann ich nur bestätigen. Als ich vor siebzehn Jahren in Stuttgart angefangen habe, gab es die „closed shops“, kleine Kreise, in denen Literatur verbreitet wurde. Lange war die Stadtbücherei der einzige öffentliche Anbieter literarischer Veranstaltungen und jetzt ist ja die Literatur in der Stadt intensiv präsent, an vielen Orten, was ich toll finde. Das beruht auf dem Engagement aller Literaturfreunde, die seit Jahren auf Literatur aufmerksam machen. Bibliotheken sind für das literarische Leben unverzichtbar, in manchen kleinen Städten ist die Bibliothek der einzige Ort dafür, in Stuttgart einer unter vielen.

 

Stuttgart hat neben der Zentralbücherei im Wilhelmspalais eine Musikbücherei, siebzehn Stadtteilbüchereien und zwei Busse – ist das viel für eine Großstadt?

 

CB: Die Lücke Sillenbuch ist noch zu schließen, dann kann man sagen, Stuttgart hat ein gut ausgebautes Bibliotheksnetz. Von der kleinsten in Münster bis zur größten in Vaihingen sind alle professionell geleitet, haben einen guten, aktuellen Bestand und ausreichende Öffnungszeiten. Man kann es nicht ganz vergleichen, aber viele Großstädte haben diese Versorgungsdichte nicht: Zu den Zeiten der Haushaltskonsolidierung wurde nicht in dem Maß investiert wie bei uns in Stuttgart.

 

IB: Man muss die Politik auf seiner Seite haben und in Stuttgart ist das in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren auch gut gelungen. Denn die Bibliothek hat die Themen, die in der Stadt eine Bedeutung haben, aufgegriffen und mit ihren Angeboten darauf reagiert. Die Bibliothek trägt zur kinderfreundlichen Stadt bei, sie unterstützt das Bündnis für Integration mit ihren interkulturellen Angeboten, sie greift die Bildungsziele der Stadt im Rahmen des Generationenvertrags auf und ist sehr präsent.

Wir nähern uns hoffentlich unaufhaltsam der Bibliothek 21, nachdem die Vorgeschichte schon über zehn Jahr dauert – was wird sie denn von der jetzigen Bücherei unterscheiden?

 

IB: Die Bibliothek 21 wird ein inspirierendes Haus des Wissens und der Kultur mit langen Öffnungszeiten. Die Angebote, die Bibliothek zum Lernen und Arbeiten zu nutzen, werden sich erheblich erweitern, denn unsere Besucher wünschen sich vor allem mehr ruhige Arbeitsmöglichkeiten in der Bibliothek. Wir haben schon jetzt unglaublich viele Gruppen von jungen Leuten im Haus, die gemeinsam lernen wollen. In dem neuen Haus gibt es neun Gruppenräume für selbstorganisiertes Lernen und die Begegnung mit Experten. Das Mediensortiment wird ausgebaut. Es wird acht Auskunftsplätze geben.  Die Arbeitsplätze für die Besucher werden alle mit Internet- und Datenbankzugängen ausgestattet. Das Medienlabor ermöglicht die experimentelle Erprobung neuer Medien und Techniken mit dem Ziel, die digitale Kompetenz zu stärken. Wir wollen Ausstellungs-, Reflexions- und Diskursräume für Netz- und Medienkunst anbieten. Wir sind auf dem Weg, stärker in die Rolle der Produzenten zu gehen, wir haben mit Podcasts – Mitschnitten von Veranstaltungen – angefangen, die man auf unserer Homepage downloaden kann, und an dem Thema arbeiten wir weiter.

 

CB: Dann gibt es natürliche eine tolle Präsentation der Literatur aus Stuttgart und der Region, auch die Musikregion wird dargestellt …

 

IB: Ein Traum unserer Leser geht in Erfüllung, ein Café!

 

CB: Es wird eine ruhige Dachterrasse geben mit schönem Blick über die Stadt und viele Wege in dem Haus, zum Laufen, für Begegnungen, Ausstellungen, alles ist offen und durch viel Glas transparent.

 

IB: Unser zentraler Leitsatz lautet: Die Bibliothek zwischen Tradition und Innovation. Der koreanische Architekt Eun Young Yi versteht das Gebäude als eine Skulptur, die für die Wurzeln des menschlichen Wissens steht. In dem neuen Haus – und dazu muss man sehr bewusst stehen – ist die Tradition von Bibliothek in der Architektur und in unseren Ideen genauso deutlich thematisiert wie das Innovative: Tradition im Sinne von Erkennbarmachen und Bewahren von Buchkultur, dem Engagement für das Buch, ein Ort der Verlässlichkeit, des Wiedererkennens, der Verwurzelung und Identität. Dafür steht besonders der meditative Kern des Gebäudes, unser „Herz“, das einlädt, einen Moment zu verweilen, den Raum auf sich wirken zu lassen, Ruhe zu finden.

Über dem Herz öffnet sich der Galerielesesaal, der die Verbindung zur Welt des Wissens symbolisiert. Es wird ganz normale Regalzonen geben, aber andererseits gibt es die innovativste Technik, Sortieranlagen und Selbstverbuchung sind vollautomatisiert. Bibliothekare werden damit von Routinejobs entlastet, damit sie für unsere Besucher Zeit haben.

Die Bibliothek ist ein Ort, der einzige wohl, an dem man selbst entscheiden kann, was man tut. Über die Stadt schauen, Zeitung lesen, arbeiten; es gibt keinen Zwang, etwas zu tun; man ist öffentlich, ohne öffentlich sein zu müssen. Wir machen Angebote zur Begegnung, bringen Menschen zusammen und bieten immer neue Überraschungen rund um Literatur, Kunst und Musik.

 

Die Fragen stellte Irene Ferchl.