Großer Zauber, kleiner Strip
Der Autor und
sein Publikum
Von Sandra Hoffmann
Als ich im
Jahr 2000 an meinem ersten Buch schrieb, das noch nicht schwimmen
gegen blond. eine erzählung in 52 tagen hieß, las ich
manchmal daraus vor. Lies uns doch etwas aus dem „Max-Text“ vor,
sagten Freunde, weil sie etwas Neues von Max, der Hauptfigur, hören
wollten. Ich las und sie lachten. Als ich mit dem „Max-Text“ zum
Open-Mike, damals noch in der wunderbaren Pankower Villa, in Berlin
eingeladen war, lachte niemand. Ich stand auf der Bühne, las die
knappen, lakonischen Szenen und es war mir, als trenne mich und das
Publikum ein gläserner Vorhang. Ich hörte mir beim Lesen zu und
was zuvor noch ganz lebendig geklungen hatte, klang nun sogar in
meinen Ohren tot. Ich verstand es nicht.
Als ich etwa
eineinhalb Jahre später aus schwimmen gegen blond las,
lachte das Publikum in Kiel und in Hamburg und in Nürnberg am
meisten, in München schmunzelte es. In Berlin war es still, aber
immerhin still. In Bamberg spürte ich jenen eiskalten Vorhang, den
ich schon kannte. Ein Vakuum, das sich um mich schloss, und ein
anderes, das die Zuhörer einhüllte. Was war das? Lese ich
schlecht, bin ich nicht bei mir oder, liebes Publikum, ist euer
geliebter Bürgermeister heute gestorben? Ich suchte nach Antworten
und fand keine. Autoren-Freunde kannten das Phänomen. Alle. Eine
Erklärung hatten sie nicht. Ist halt manchmal so, sagten sie, sagte
ich.
Seit 2003 organisiere und moderiere ich eine
Veranstaltungsreihe für junge Autoren in Tübingen, buch&bühne
heißt sie und findet auf einer Theaterbühne statt. Manchmal lade
ich Kollegen ein, von denen ich schon einmal eine Lesung gehört
habe, irgendwo, sagen wir mal zum Beispiel in Lübeck im
Buddenbrookhaus. Ich war dort mit meinem ersten Roman zur Lesung um
einen Debütpreis eingeladen, gemeinsam mit Birk Meinhardt und Jana
Scheerer. Und Jana Scheerer stahl uns mit ihren Erzählungen Mein
Vater, sein Schwein und ich komplett die Show. Das Publikum
lachte, ich auch, denn da hatte jemand mit großer Gründlichkeit
Wörter und Redewendungen genau genommen. „Zu meinem dreizehnten
Geburtstag bekam ich Günter Grass geschenkt“, las sie und es war
erfrischend, mit Günter Grass zwischen geblümten und herzigen
Mädchenunterhosen zu sitzen. Jana Scheerers Bücher gingen danach
weg wie normalerweise nur die von Grass, mindestens dreißig Stück,
alle, die dalagen. Sie war der Star des Abends, unterhaltsam, forsch
und jung.
Ich mochte, was ich hörte und was ich erlebte auch
und lud sie zu meiner Veranstaltung nach Tübingen ein. Sie kam, sah
aus wie kurze Zeit davor, sprach auch so und las sogar die gleichen
Geschichten, das anscheinend bewährte Programm. Zuerst war Stille
im Raum, dann klirrte Jana Scheerers Stimme, im Scheinwerferlicht
schien ihr Körper zu schrumpfen. Manchmal hustete jemand im
Publikum. Ich dachte an Marlen Haushofers Roman Die Wand.
Die Buchhandlung verkaufte kein einziges Buch vom Büchertisch. Wen
hast du denn da eingeladen, fragten mich Freunde, die unter den
Gästen waren: Albern ist das, nicht einmal unterhaltsam, infantil,
sagten sie. Nein, sagte ich! Es ist nur heute so und hier. Jana
Scheerer war sehr geknickt. Verständlicherweise. Ich war es auch
und dachte an Else Lasker-Schüler, die stolz einmal vor der Lesung
sagte: „Hören Sie, gehen Sie raus, Sie gefallen mir nicht. Ihre
Ausstrahlung kann ich nicht vertragen.“ Aber wer bliebe dann an
einem solchen Abend noch!
Auch das Gegenteil ist schon
passiert. Als die Wogen um Uwe Tellkamps Eisvogel hochschlugen,
manche Kritiker Autor und Text nicht mehr unterscheiden wollten, er
harte Hiebe zu verkraften hatte, kam er nach Tübingen und ich
gestehe, ich hatte Sorge, dass wir mit seinem wirklich nicht
einfachen Roman einen schwierigen Abend zu bestreiten hätten. Ich
war gerüstet, aber das Gegenteil geschah. Uwe Tellkamp las aus dem
Eisvogel, gespannte Aufmerksamkeit im Raum, Tellkamp blühte
auf und später, als er aus einem Manuskript lesen wollte und
plötzlich druckreifen Romantext sprach, die Augen geschlossen,
saßen wir alle in einer Kugel, der kleinen Welt einer Probebühne,
auf der DDR-Geschichte augenblicklich lebendig wurde. Ein magischer
Moment, den ich vielleicht mein Leben lang nicht mehr vergessen
werde. Bis heute sprechen noch Gäste davon.
Was
geschieht zwischen einem Text, einem Autor und seinen Zuhörern und
wie geschieht es? Wann tritt der Augenblick ein, in dem der Autor
weiß: hier bin ich sicher, hier kann ich zeigen, wer ich bin?
Geschieht das, noch bevor einer zu lesen beginnt, oder erst, wenn er
den Pulsschlag des Publikums hört, das Atmen, die gespannte Neugier
in der Stille, das erste Glucksen oder einfach nur den ruhigen Bann,
der seine Stimme sicher weiterträgt. Wann stellt sich der Moment
ein, in dem ein Publikum einen Text ablehnt, mehr den Text als den
Autor, die Autorin: Die war ganz nett, ganz sympathisch, sagen sie
dann, aber mit dem Text konnte ich nichts anfangen. Wie Lemminge
stürzt das Publikum in die Vereisung und der Autor klirrt mit. Auf
der Bühne rudert die Moderatorin, rutscht übers Eis, tut ihr
Bestes, aber auch der Weltrekord im Einer oder Eisschnellauf würde
jetzt nichts nützen.
Wodurch entsteht eine solche Stimmung?
Texte haben einen Charakter, ein eigenes Leben, eine
Gemütsverfassung, ein Herz und einen eigenen Kopf. Jede Stadt,
jedes Haus, jede Veranstaltungsreihe und das dazugehörige Publikum
haben eine Seele, einen kollektiven Herzschlag; äußere Umstände,
Ereignisse, die für Tage oder Wochen die Welt erschüttern oder
bewegen, prägen sie zwar, aber im Grunde genommen berühren solche
Erlebnisse eine Lesung nur peripher. Eine Lesung wird für den Autor
und das Publikum erst dann wirklich schön, wenn etwas
zusammenkommt, etwas auf direkte Neugier stößt; wenn sich
erotisiert, was vielleicht zuerst nur sexy ist, sich im besten Fall
ineinander spiegeln oder aneinander reiben kann, wenn jedenfalls die
Luft im Raum in Bewegung gerät, sich aufheizt, der Vorhang
zerspringt und das Eis schmilzt. Das ist vielleicht wie die
Begegnung mit der Liebe, einer der letzten Zauber des Lebens. Lust
zuzuhören erzeugt Lust vorzulesen und andersherum. Ein kleiner
Flirt also – wenn er gelingt, gefolgt von einem kleinen Strip –
wenn der Autor, sein Text und sein Publikum sich einander zeigen.
Sandra Hoffmann, Jahrgang 1967, lebt als freie Autorin
in Tübingen, wo sie die Veranstaltungsreihe „buch&bühne“
organisiert. Nach schwimmen gegen blond (2002) und Den
Himmel zu Füßen (2004) erschien soeben ihr dritter Roman
Liebesgut bei C. H. Beck.