… „Eine große Sehnsucht, die unbeantwortet bleibt“
Neue
Bücher aus dem Land
Von Manfred Bosch
Wer es
heutzutage unternimmt, eine Handvoll schöngeistiger Literatur mit
regionalem Thema und Hintergrund anzuzeigen, muss sie nicht mehr als
„kritische Heimatliteratur“ oder gar als „Anti-Heimatromane“
präsentieren. Das war in den siebziger Jahren noch anders, als
Franz Xaver Kroetz, Martin Sperr und Felix Mitterer mit ihren
Stücken herauskamen oder Franz Innerhofer und Gert F. Jonke den
Begriff des „kritischen Heimatromans“ nahelegten. Heute bedarf
es solcher Distinktionen längst nicht mehr – Heimat ist als
Begriff „gerettet“ und „Heimatliteratur“ hat den Beiklang
des Pejorativen, der einmal „wohlverdient“ war, weitestgehend
verloren. Was man von ihr jedoch erwarten darf – dies zu
beurteilen ist der deutschsprachige Südwesten nicht die
ungeeignetste Region. Im folgenden seien einige Beispiele
vorgestellt.
Am Anfang mögen Jürgen Lodemanns
Schwarzwaldgeschichten stehen. Wer den zahlreichen
einschlägigen Anthologien nicht nur eine weitere hinzufügen
möchte, kommt um ein paar Fragen und Probleme nicht herum. Etwa ob
es einen Kanon gibt, den man nicht unbeachtet lassen kann, welche
Autoren und Texte unverzichtbar sind und heute noch Bestand haben
oder auch, welches Bild neuere und jüngere Autoren von dieser
Landschaft und ihren Menschen entwerfen. Da macht es neugierig,
welche Auswahl ein Schriftsteller und langjähriger
Literaturredakteur trifft, der aus dem Ruhrgebiet stammt, den
Schwarzwald bereits als Student kennen lernte und nun schon seit
Jahrzehnten in seiner Nähe wohnt. In seinem ausführlichen Nachwort
(„Kleine Geschichte der Schwarzwaldgeschichten“) spricht
Lodemann jedenfalls eine Fülle historischer, sozialer, kultureller,
touristischer und ökologischer Aspekte an, so dass man versucht
ist, sie zugleich als Kriterien seiner Auswahl anzusehen. Doch die
Lektüre zeigt bald, dass die ausgewählten Texte diesem Tableau der
Fragen und Erwartungen nur bedingt gerecht werden – hat der
Herausgeber etwa unter dem Eindruck eines gewissen Mankos seiner
Auswahl durch ein „aufgewecktes“ Nachwort das nötige
Problembewusstsein nachgeschoben?
Sicher, um
Grimmelshausen und Hebel, um Scheffel und Auerbach, um Hansjakob und
Hauff, dessen Kaltes Herz den Auftakt bildet, kommt man als
Herausgeber kaum herum. Dann bilden „touristische“ Stimmen von
Varnhagen, Twain und Hemingway die Brücke zur neueren und
Gegenwartsliteratur: Hier treffen wir Einheimische (darunter Hermann
Hesse, Marie Luise Kaschnitz, Klaus Nonnenmann, Christoph Meckel,
Susanne Fritz, Wolfgang Duffner, Walle Sayer) und „Hergewehte“
(Wolfgang Altendorf, Otto Jägersberg). Wichtig sind Lodemann auch
sozialhistorische Texte und Vertreter der politischen Opposition
bzw. des literarischen Protests (das „Badische Wiegenlied“ von
Ludwig Pfau und Flugblattlieder von Walter Mossmann). Gegen die
allermeisten Beiträge ist kaum etwas einzuwenden – doch was man
vermisst, sind (Wieder-)Entdeckungen und Texte jenseits des
Erwartbaren. Im Gegenzug hätte man gern auf die Stimmen Goethes und
Heinses verzichtet, die dem Rheinfall gelten und mit dem Schwarzwald
nicht das Mindeste zu tun haben, ebenso wie auf einen Text zu
Horben, der in biederstem Kirchenführerstil gehalten ist. Und
weshalb Hansjakob im Nachwort nicht einfach als misogyn und für
antisemitische Stimmungen anfällig bezeichnen, anstatt seine Sünden
noch lange durch entsprechende Passagen zu belegen? (Dass es der
Herausgeber in seinen eigenen Beiträgen auf eine stolze Anzahl
ärgerlicher Falschschreibungen von Eigennamen bringt, sei nur am
Rande vermerkt.)
Zu den großen Themen der
Heimatliteratur zählen seit jeher Kindheit und Jugend. Hier hat
insbesondere die autobiografische Literatur in den letzten
Jahrzehnten zahlreiche, teilweise sehr erfolgreiche Darstellungen
hervorgebracht – für sie mögen Namen stehen wie Maria Beig
(Hermine) und Martin Walser (Der springende Brunnen),
Arnold Stadler (Ich war einmal) und Johannes Hösle (Vor
aller Zeit). Man kann die Bedeutung dieses Themas auch an der
Tatsache ablesen, dass es sich bei vier von sechs unserer Titel
ebenfalls um autobiografische Kindheits- und Jugenddarstellungen
handelt.
Fast stets sind ihnen zwei Dinge gemeinsam: der
soziale Ort (das Dorf oder die Kleinstadt) und die Faszinationskraft
des „Erinnerungskontinents Kindheit“. „Vorbei – was für ein
dummes Wort“ – diese Bemerkung Goethes hat Manfred Mai seinem
neuen Buch Winterjahre nicht umsonst vorangestellt. Kaum
zufällig auch, dass er Geburtsjahr (1949) und -ort (Winterlingen
auf der Rauen Alb) mit seinem Antihelden Wolfgang Windbacher teilt.
Dieser, eine Art Simplex-Nachfahre, hat es ob der Langsamkeit seines
Begreifens besonders schwer und muss von einer lieb- und
verständnislosen Umgebung, vor allem von einem brutalen Vater
vieles erdulden, so dass er erst spät Selbstbewusstsein entwickeln
und sich gegen die Anpassungsforderungen von Elternhaus und Umwelt
behaupten lernt. Vor dem Hintergrund einer an der tiefen Provinz
gespiegelten Nachkriegszeit, in der vieles erfrischend direkt zur
Sprache kommt, entwickelt Mai eine exemplarische Lebensgeschichte,
bei der er großen Wert auf die subtile Einfühlung in die
jugendliche Psyche legt. Gut gelingen ihm bedrängende
Erlebniszustände allgegenwärtiger Angst und Einschüchterung.
Mai, der seine hoch gelobte Fähigkeit zu einer altersgerechten
Vermittlung auch komplexester Stoffe in erfolgreichen Büchern zur
Genüge bewiesen hat, versteht Winterjahre als seinen
ersten Roman für Erwachsene. Nur zu verständlich, dass der äußerst
produktive und erfolgreiche Autor aus dem Getto der oft noch minder
geachteten Kinder- und Jugendbuchliteratur auszubrechen sucht –
doch einen Gefallen hat ihm der Verlag sicher nicht getan, als er
sich darauf einließ. Denn seinen eingeschliffenen Erzählerstil
wird Mai nicht einfach durch Etikettenwechsel los: Zu stark belastet
die ins Lehrhaft tendierende Darstellung, die dem Leser zu wenig
zutraut, zu sehr wird die Lektüre gelegentlich durch kleine
„Lektionen“ getrübt. Da Mai keine Distanz zu seinem „Helden“
kennt und deshalb auch zu keiner erzählerischen Überlegenheit
findet, holt seine Darstellung den Stoff letztlich ein Stück weit
ein; das durchaus sympathische Buch wird den Beigeschmack des
Biederen nie ganz los.
Noch stärker als Mai, der
zahlreiche Aspekte jugendlicher Entwicklung seines Helden in fünfzig
Kapiteln abhandelt, greift Egon Gramer in seinem zweiten Roman
Zwischen den Schreien auf eine episodische Erzählweise
zurück. Die meist nur wenige Seiten umfassenden, mitunter an
eigenständige Erzählungen erinnernden Schlaglichter auf die Jugend
des Georg Schramm durchziehen feste Konstanten: die nicht
hinterfragbare Gültigkeit des Kirchenglaubens, die häusliche Moral
(der gebrochen aus dem Krieg heimgekehrte Vater darf nicht belastet
werden) und die Allgegenwärtigkeit des Todes. „Unter dem Kreuz im
Herrgottswinkel hing eine gerahmte große Fotografie von Theo, dem
Sohn von Emma, der schon gefallen war und von dem Georg ein
Sterbebildchen im Gesangbuch hatte. Bald würde er auch ein Bildchen
von seinem Onkel Josef einsortieren können.“
So hat es seine eigene Logik, wenn Gramer sein Alter Ego aus der
elterlichen Verfügung entkommen lässt, um ihn, ausgestattet mit
einem Freiplatz, dem katholischen Mief eines schwäbischen
Klosterinternats auszusetzen. In Exerzitien werden die Jungen auf
Christusnachfolge eingeschworen und ihre Pubertätsprobleme mit der
Devise beantwortet: „Rein bleiben und reif werden. Dreimal A.
Ablenken! Abhärten! Arbeiten!“ Gramers Roman ist vor allem auch
ein Buch der Erinnerungen an „Stichpunkte des Augenblicks“, die
in kraftvoller Sprache aufgerufen werden: die Großmutter und der
elterliche Garten, die Flüchtlinge im Dorf und die
Milchsammelstelle, das erste Messdienerlatein und die Noteneinträge,
die Exerzitien im Kloster und die Lesungen während der Mahlzeiten,
Pater Leppich, die Bundesjugendspiele und der erste Jazz, der bei
seinen Gegnern freilich noch Affenmusik heißt.
Dass
Erinnerungen oft erst im Alter zu literarischer Gestaltung drängen,
liegt in der Natur der Sache: Egon Gramer war fast siebzig, als er
2006 seinen ersten Roman Gezeichnet: Franz Klett
herausbrachte – der Thurgauer Walter Vollenweider war nahezu
achtzig, als sein Kindheitsbuch Das Dorf hinterm Dampfschiff
erschien. Doch die Idyllik dieses Titels, die durch den Ortsnamen
Gottlieben auch noch aufs Fragwürdigste beglaubigt wird, ist so
trügerisch wie brüchig. Zugegeben: Die kleine schweizerische
Gemeinde am Seerhein, Anlegestelle für Ausflugsschiffe zwischen
Konstanz und der Reichenau, ist bis heute eine friedliche Oase der
Abgeschiedenheit und Stille, und dass sie dem Sohn eines Postenchefs
beim Schweizer Zoll zum Gegenstand späten Erinnerns wurde, kann
nicht überraschen. Vollenweider, der nach dem Besuch des
Lehrerseminars Sprachen, (Kunst-)Geschichte und Ethnologie
studierte, bevor er lange im europäischen Ausland lebte, ruft in
seinem Buch, das einer Sammlung von Miniaturen und
Erinnerungsfragmenten gleicht, die zauberhafte und geheimnisvolle,
manchmal merkwürdige, mitunter sogar befremdliche Welt seiner
Kindheit auf. Es war eine Zeit der Spiele und Streiche, bei denen
der ruhig am Zollhaus vorbeiziehende Seerhein seine jahreszeitliche
Regie führte, eine Zeit auch, in der die Geheimnisse des Wassers
erkundet wurden, die Landschaft ringsum in kindlicher Neugier und
jugendlichem Ungestüm in Besitz genommen wurde. Doch jäh brach die
Zeitgeschichte in die dörfliche Stille ein: erst in Gestalt des
technischen Fortschritts, als eines Tages die propellerbewehrte DO-X
vor Gottlieben wasserte, dann 1933, als mit Hakenkreuzen bemalte
Boote provozierend den engen Seerhein passierten, und vollends mit
Beginn des Krieges. Mit dem Schließen der letzten Wege nach
Konstanz geriet das Dorf noch stärker ins Abseits, erhielt jedoch
mit der Grenzbesetzung neues Leben. Doch ob es um das geruhsame und
„ereignislose“ Leben (wie in den Naturschilderungen) geht oder
um Unvorhergesehenes und Beunruhigendes (wie die Flucht russischer
Gefangener über den Rhein): Was Vollenweiders Erzählweise
sympathisch macht, ist das ruhige Sicheinlassen auf eine
unspektakuläre Welt.
Manfred Mai lässt seinen
Antihelden einmal nahe an einen Abgrund treten und durch den
tröstlichen Gedanken an die Möglichkeit eines Freitods, der „alle
Probleme löst“, neuen Lebensmut fassen. Susanne Fritz hat diesem
Thema ein ganzes Buch gewidmet: Heimarbeit. Als Motto hat
sie einen Satz Thomas Bernhards vorangestellt: „Heimat ist, wo man
sich aufhängt.“ Ort der Handlung ist eine Kleinstadt im
Schwarzwald, der eine besonders hohe Selbstmordrate nachgesagt wird:
„Du weißt ja, wie man in meiner Heimat verfährt: Man nimmt sich
das Leben. Mit jedem Toten rücken wir ein wenig enger zusammen, das
erzeugt eine gewisse Nestwärme in unserer Stadt.“
Fritz führt die Handlung rasch vom konkreten Ort weg in Richtung auf eine grundsätzliche Erörterung dieser Freitod-Problematik. Sie tut dies nicht in Form einer durchgehenden Handlung oder einer stringenten Erzählung, sondern entwirft ein ganzes Panorama von Erzählungen und reflektierender Prosa, von Dialogen und essayistischen Texten. Da geht es um einen todkranken Pflegebedürftigen („immer die Hände anderer am Leib. Und sie bitten müssen mit tauber Zunge!“), um den Konstrukteur einer Selbsttötungsanlage, die ihre Tauglichkeit ungewollt und unversehens an dessen Tochter beweist, um kindliche Strangulierungsversuche an einer Türklinke oder um das Paradox, dass man sich nirgends lebendiger fühlen kann, als wenn man in Todesangst an Abgründen balanciert. Düstere Geschichten und Texte voll schwarzen Humors, die das Buch zwischen Realität und Fiktion, zwischen Ernst und Satire changieren lassen und ganz verschieden zu lesen erlauben: als Spurensuche nach der eigenen Kindheit oder als „Heimatroman von der bösen Sorte“, als Traktat, das ein Recht auf den eigenen Tod proklamiert – „Der eigene Tod ist eine Kunst“ –, oder als Memento mori – „Bald vergeht kein Tag ohne Tod. Irgendwann siehst du ihn überall, jederzeit. Bis der Tod schließlich als das einzige erscheint, das wahr und wirklich dein Leben bestimmt.“ All diese Versionen sind durchsetzt mit einschlägigen Zitaten von Jean Améry über E. M. Cioran und Friedrich Nietzsche bis Oscar Wilde.
Heimarbeit ist von einer verstörenden Kraft, die aus
der obsessiven Energie der Autorin kommt – dagegen wirkt manch
anderer Titel wie Deckchensticken. Angesichts dieses Romans (ob es
überhaupt einer ist?) könnte die Devise formuliert worden sein,
Literatur habe entweder zu alarmieren – oder zu schweigen. Zwar
treibt dieses Buch mit dem Leser auch ein hintersinniges Spiel und
meint deshalb alles „irgendwie auch nicht so ernst“ –
schließlich begehrt „unser Leben heftig in uns auf, wenn wir es
in Richtung Tod lenken“ –, aber wem es um Unterhaltung zu tun
ist, der lasse doch besser die Finger von diesem gut und inspiriert
geschriebenen Buch.
Wie Susanne Fritz verzichtet
auch José F. A. Oliver in Mein andalusisches Schwarzwalddorf
auf eine lineare Darstellung, um sich seinem Heimatort Hausach im
Schwarzwald aus ganz verschiedenen Perspektiven zu nähern. Zwar
sind die neun Beiträge des Bandes summarisch mit der
Gattungsbezeichnung Essay versehen – in Wirklichkeit handelt es
sich um Prosa und Gedichte, um Notate, Übersetzungen und
poetologische Reflexionen sowie um Reiseerinnerungen, Vorträge und
eine Rede: Sie gilt dem einmillionsten Gastarbeiter in Deutschland,
einem Landsmann. Mit diesen „Zugriffsvarianten“ versichert sich
Oliver, 1961 als Sohn zugewanderter Arbeitsemigranten geboren,
seiner zweifachen Identität: seiner andalusischen Herkunft und
seiner alemannischen Heimat. An beidem hält er fest, beides gehört
für ihn zusammen, denn gleich „hinter der Dämmerlinie der
schweren, schwarzgrünen Tannen lag Andalusien“. Hausach gilt ihm
dabei als „Erkerfenster ins Bewusste einer Wahlverwandtschaft“,
die er mit „andalusisch / alemannisch, spanisch / deutsch“
umschreibt.
Am deutlichsten stellt Oliver diese Wahlverwandtschaft in seinen drei Beiträgen über die Hausacher Fasnacht (Fasent) heraus, worin der „Südwärtige“ seiner Faszination durch das Brauchtum und die alemannische Sprache Ausdruck gibt. Oder wenn der experimentierlustige Wortmetz Sprache de-komponiert und neu zusammensetzt: „Dann schreibe ich unter anderem ‚achHaus!‘ und ‚waldSchwarz‘“, durch solchen Sprachgebrauch wird Oliver „eins mit einer Gegend, die ihn immer wieder wortgebiert“.
Zum Weiterlesen:
Schwarzwaldgeschichten.
Hrsg. von Jürgen Lodemann. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2007.
19,90 Euro
Manfred Mai, Winterjahre. Roman
von der Schwäbischen Alb. Silberburg-Verlag, Tübingen
2007. 19,90 Euro
Egon Gramer, Zwischen den
Schreien. Roman. Piper, München / Zürich 2007. 19,90
Euro
Walter Vollenweider, Das Dorf hinterm
Dampfschiff. Eine Kindheit am Seerhein. Libelle-Verlag,
Lengwil 2007. 14,50 Euro
Susanne Fritz, Heimarbeit.
Roman. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2007. 18,90 Euro
José
F. A. Oliver, Mein andalusisches Schwarzwalddorf.
Essays. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007. 8,50 Euro
Manfred
Bosch, Jahrgang 1947, lebt als Schriftsteller und Herausgeber von
vergessener Literatur und zahlreichen Anthologien in Lörrach. Seit
1980 ist er Mitherausgeber der Allmende. Im Frühjahr
erscheint seine Geschichte des Konstanzer „Südverlags“
(1945-1952).