Ray Bradbury und die Männer des Herbstes
Von Ingrid Mylo
I.
Ich hatte noch etwas Zeit an
diesem Samstagvormittag im Oktober des Jahres 1974. Die Proben zu
„Martha, die letzte Wandertaube“ begannen aus irgendeinem Grund
später und ich lief, bevor ich ins Theater am Turm ging, noch
schnell über den Flohmarkt am Main, wühlte aus einem Haufen
Flitter und Müll ein Taschenbuch und nahm es für die verlangten
fünfzig Pfennige mit. Hauptsächlich wegen des Stundenglases auf
dem Cover, aber auch, weil es in diesem Durcheinander von
kaffeefleckiger Spitze, Puppenarmen und angeschlagenem Emailgeschirr
so etwas wie ein Buch überhaupt gab. Während der Theaterprobe las
ich blickweise in den Seiten. Sonderlich beeindruckt kann ich von
den Geschichten nicht gewesen sein, ich habe keine blasse Ahnung
mehr, wovon sie handelten. Nur ein Aroma von Staub, Zwielichtigkeit
und etwas, das nicht mit rechten Dingen zugeht, ist geblieben. Ralph
Möbius, Mitglied der Gruppe „Ton, Steine, Scherben“ und für
die Musik der „Martha“-Produktion zuständig, sah mich lesen,
griff sich das Buch und gab es mir kopfschüttelnd wieder. Zwei Tage
später drückte er mir eine Plastiktüte in die Hand. Darin
befanden sich zwei Dinge: ein Spielzeugtier aus Plüsch, ein kleiner
Hund, glaube ich, nicht für mich, sondern dem Schauspieler Volker
Spengler zugedacht und nur aus Versehen noch in der Tüte. Das
andere war Ray Bradburys Roman Geh nicht zu Fuß durch stille
Straßen. Der Buchdeckel: vorwiegend blau, mit graubraunen
Häuserruinen, die versteinerten Gewächsen glichen, ein kleiner
Mann in langem Mantel drehte sein leuchtend gelbes Gesicht in
Richtung Betrachter, und vorne rechts thronte ein riesiger,
stahlblauer, kahler Frauenkopf, der anstelle von Haaren schwarze,
kreisrunde Löcher aufwies.
„Wenn du schon so’n Zeugs liest“, sagte Ralph, der sich ein
paar Jahre später Rio Reiser nannte, „dann richtig. Von einem,
der’s kann.“
II.
Der, der’s kann, ist ein
Zauberer, einer, der Druckerschwärze in Sternenstaub verwandelt,
der dürre Buchstaben in seinen Zylinder wirft und blühende Bilder
herauszieht, eins nach dem anderen, ein seidiger Rausch bunter
Tücher schwebt auf Gegenstände herab, auf Gefühle und Minuten.
Vor den Augen des Lesers verändert sich das Vertraute, das
Gewöhnliche, und wird Wunderwerk. Wie damals, als Kind, als man
Kopf und Taschen voll hatte mit allen möglichen Anblicken und
Fundstücken vom Wegrand, und eine Flaschenscherbe war keine
Flaschenscherbe, sondern der in der Sonne funkelnde Splitter eines
Geheimnisses.
III.
Und ich las. Las das Buch aus der
Plastiktüte, sechzehn utopisch-phantastische Meistererzählungen.
Las von Leonard Mead, dessen Lieblingsbeschäftigung (das abendliche
Schlendern durch die menschenleere Stadt) die öffentliche Ordnung
des Jahres 2052 so sehr bedroht, dass ein ferngesteuerter
Polizeiwagen den einsamen Fußgänger einkassiert und fortschafft.
Von der Kolonialisierung des Mars las ich. Von einem Dinosaurier,
der nach Jahrmillionen der Abgeschiedenheit vom Grund des Meeres
auftaucht, um den Ruf eines Nebelhorns mit seinem sehnsuchtsvollen
Schrei nach einem Gefährten zu beantworten. Von der Aprilhexe, die
sich in einen Sterblichen verliebt und tief in der Nacht als Amsel
„einen Augenblick lang leicht und sonderbar an die hellen
Mondkristalle der Fensterscheibe schlägt“.
IV.
Als
den „Louis Armstrong der Sciencefiction“ hat der Schriftsteller
Kingsley Amis den am 22. August 1920 in Waukegan, Illinois,
geborenen Raymond Douglas Bradbury einmal bezeichnet. Selbst Leser,
für die das Genre nichts als ein weißer Fleck auf der Karte ihres
Bewusstseins ist, kennen seinen Namen. Er war gerade sieben Jahre
alt, als ihm eine Tante aus Büchern von Edgar Allan Poe und Wilkie
Collins vorlas. So etwas prägt.
Mary Bradbury, eine andere Verwandte aus dem väterlichen
Zweig der 1630 in die USA eingewanderten Familie, wurde noch im
selben Jahrhundert als Hexe in Salem / Mass. vor Gericht gestellt.
„Wahrscheinlich“, sagt Ray Bradbury, „habe ich von ihr mein
Streben nach Freiheit von Furcht und meinen Abscheu vor
Gedankenforschung und jeder Art von Gedankenkontrolle geerbt.
Sciencefiction ist ein wunderbares Werkzeug, und ich gedenke es zu
verwenden, wann immer es notwendig ist, Vorurteile zu beseitigen und
die Menschen wachzurütteln, damit sie einander in Frieden leben
lassen.“
V.
Geschichten wie Schläge von
Mottenflügeln. Geschichten, in denen Frauen auf der Veranda sitzen
und sticken und dann sehen, wie „am Rand ihres Blickfelds die Welt
aufleuchtet und Feuer fängt“ – und die Erbsen in der Küche
bleiben für alle Zeiten ungepalt. Geschichten, in denen Menschen in
die Vergangenheit reisen und dabei durch einen Fehltritt den Tod
eines grün-gold-schwarz glitzernden Schmetterlings verursachen, und
als sie zurück in der Gegenwart sind, Jahrtausende später, ist die
Sprache verstümmelt und ein anderer Mann Präsident. Geschichten,
in denen fliegende Menschen wie „Spinngewebe von den Sternen
herabsinken“, in denen das Summen eines Elektrizitätswerkes in
Arizona in „die engsten Nischen des Schädels hinaufsteigt und
einen Gesang auslöst wie einst Liebeslieder“ und in denen ein
Nachtwächter, zum Äußersten entschlossen, um die Erhaltung von
Filmkulissen kämpft. Um die Rettung der Träume.
VI.
Ein
Sciencefiction-Autor, der seine Worte wie Waffen gegen den
Fortschritt einsetzt. Nichts Gutes kommt von Übermorgen: Also
schreibt Bradbury gegen die Medien und die Maschinen, schreibt gegen
die Weiterentwicklung der Technik, gegen die Zukunft selbst.
Unerbittlich, vehement und Jahrzehnte hindurch. Das hält die
Forscher nicht ab: Atombombenabwurf und Videoüberwachung sind die
Geister, vor denen er warnte und die man trotzdem rief. Und kein
Meister ist in Sicht, keine Ecke, in die das gefährliche Spielzeug
verbannt werden könnte. Dass Bradbury dennoch nicht locker lässt,
nicht ablässt von seinen Überzeugungen, hat etwas Unbelehrbares,
etwas von der hilflosen Wut eines Jungen, der Steine und Erdklumpen
gegen die Welt der Erwachsenen schleudert, mit der er nicht
einverstanden ist.
VII.
Der chinesische Kaiser Yuan,
der einen Flugdrachen und dessen Erfinder verbrennen lässt, damit
nicht irgendwann „ein Mann mit einem bösen Gesicht und einem
bösen Herzen“ diese Maschine zu bösen Zwecken missbraucht.
Mister Albert Brock, der beim Psychiater landet, weil er
„gegenüber Apparaten, die ewig grunzen“, gewalttätig wird: Er
tritt ein Radio tot, zerbeißt Armbandsender wie Walnüsse,
erschießt den Fernseher und stößt das Telefon den Müllschlucker
hinunter. Dann hat er Ruhe. „Die Stille kam mir vor, als hätte
ich Eiskrem in den Ohren.“
Der Sergeant, der ein winziges Gerät konstruiert hat, das
mithilfe des Rost-Faktors in der Luft alles Kriegsmaterial zerfallen
lässt.
Die Müllkutscher von Los Angeles, die am 10. Dezember 1951
mit Funkgeräten ausgerüstet werden: „Wenn die Atombomben auf
unsere Stadt gefallen sind, dann werden diese Sender zu uns
sprechen. Und unsere Müllautos werden die Leichen
aufnehmen.“
VIII.
Zwischendurch ein Kapitel, das
einen zu Atem kommen lässt. Es ist genau einen Satz lang: „Für
den Rest dieser Nacht passierte nicht mehr viel.“ Ein Satz, auf
den man sich retten, an den man sich klammern kann wie an die eine
Planke, die vom Untergang des Schiffes übrig geblieben ist. Dann
ist das Kapitel zu Ende. Darum herum tost und wütet das
Geschehen.
IX.
„Nehmt euch vor den Männern des
Herbstes in acht.“ Denn das Böse kommt an einem regenverhangenen
Oktobertag in die Stadt, kommt in Gestalt von Mr. Cooper und Mr.
Dark und kommt auf leisen Sohlen. Es kommt mit dem Zirkus nach Green
Town: mit Fahnen, Drehorgeln, blauen Blitzen, mit dem Geruch von
Zuckerwatte und Lakritz. Mit einem Spiegelkabinett, in dem die
Seelen ertrinken wie Schiffbrüchige im eisigen Meer. Mit einem
Karussell, das das Alter der Mitfahrenden Runde um Runde, Jahr um
Jahr, vor- oder zurückstellt. Das Böse, jahrhundertalt und
bestrebt, weitere Jahrhunderte zu überdauern, braucht ständig
Nahrung: Es nimmt sich die Tränen und die Alpträume der Menschen,
nimmt ihnen Schmerz, Schuld und Angst. Dafür werden sie – um der
Jugend, des Geldes oder des Ruhmes willen – zu Verrätern: an
sich, an ihren Überzeugungen, an ihren Freunden. Vor den
Versprechungen der Verführer gibt es nur einen Zufluchtsort: die
Bibliothek mit ihren Büchern, dieses Arsenal, randvoll mit Wissen
und Phantasie und der Möglichkeit, sich zur Wehr zu
setzen.
X.
Nachdem Bradbury mit achtzehn Jahren die
Zeitschrift Futura Fantasia herausgegeben und nahezu im
Alleingang (unter verschiedenen Pseudonymen) mit diversen Beiträgen
bestückt hat, nachdem er mit zwanzig genügend Druck und Disziplin
aufgebracht, eine Geschichte pro Woche verfasst und an Zeitschriften
wie Super Science Stories, Weird Tales und Planet
Stories geschickt hat (zehn Jahre später hießen die Adressen
Esquire, Collier’s und Saturday Evening Post),
veröffentlichte er 1947 seinen ersten Erzählband Dark
Carnival. Danach eine Flut von Büchern: Erzählbände, Romane,
Essays, Drehbücher (darunter 1953 das von Moby Dick,
dessen Entstehungsgeschichte Bradbury 1992 in dem Roman Grüne
Schatten, weißer Wal schildert), Gedichtbände, Theaterstücke,
Kinder- und Jugendbücher. 2007 wurde ihm der Pulitzerpreis für
sein Lebenswerk verliehen.
XI.
Die Jungen in den
Büchern sind meist elf Jahre alt, oft heißen sie Spaulding. Und
mit ihnen tauchen – wie Rilkes weißer Elefant, der dann und wann
und als Refrain vorübergleitet – bestimmte Details immer wieder
auf: eine amerikanische Kleinstadt in Illinois namens Green Town.
Der Mars als Wille und Vorstellung und Synonym für die Suche nach
dem Sinn des Lebens. Der Zirkus, Jahrmärkte, Rummelplätze,
Vergnügungsparks mit monströsen Ausstellungsstücken. Äpfel, mal
als reine Frucht, mal als „die goldenen Äpfel der Sonne“ in
einer Gedichtzeile von W. B. Yeats oder in Metaphern: tanzende
Frauenfüße machen ein „Geräusch wie Sommeräpfel, die in
weiches Gras fallen“, und Nachtfalter tippen wie „Apfelblüten
die fernen Straßenlaternen“ an. Der Tod, natürlich, ob er nun
ein einsames Geschäft ist oder kommt, um jemanden im Weidenkorb zu
holen, der Tod in vielen Formen und Farben. Als Wind jagt er den
Weltreisenden Allin, als Mr. Munigant lutscht er einem angeblichen
Hypochonder, dessen Knochen zum Erbarmen schmerzen, das Skelett aus
dem Leib. Er nötigt einem armen Farmer seine Sense auf und zwingt
ihn in die Rolle des Schnitters. Väter, die erfinden und träumen
und von Rätseln leben, und Mütter, die einen kühlen Kopf und die
ihre Hände fest in den Taschen der Küchenschürze vergraben haben,
Erdung der Familie. Überhaupt die Familie: Hort und Heim und Schutz
vor den Ungeheuern, die im Fortschritt lauern und in der
Unwissenheit. In den Schoß der Familie kehren die Kinder am Abend
zurück, müde von den Spielen des Tages. „Wer als Letzter zu
Hause ist“, schreit Douglas in dem Roman Löwenzahnwein,
„is’n Nashornpo!“
Zum Weiterlesen:
Schneller
als das Auge. Geschichten. Übersetzt von Hans-Christian
Oeser. 2006. 336 Seiten, 19,90 Euro
Geisterfahrt.
Erzählungen. Übersetzt von Monika Elwenspoek. 2000. 272 Seiten,
19,90 Euro
Fahrenheit 451. Roman. Übersetzt
von Fritz Güttinger. 1981. 176 Seiten. 7,90 Euro
Der
illustrierte Mann. Roman. Übersetzt von Peter Naujack.
2002. 320 Seiten, 9,90 Euro
Das Böse kommt auf leisen
Sohlen. Roman. Übersetzt von Norbert Wölfel. 2003. 272
Seiten, 9,90 Euro
Löwenzahnwein. Übersetzt
von Alexander Schmitz. 1983 (antiquarisch)
(alle im
Diogenes Verlag, Zürich)
Ingrid Mylo, Jahrgang 1955,
lebt als Schriftstellerin in Frankfurt a. M. und Kassel. Demnächst
erscheinen von ihr kürzere und längere Prosatexte unter dem Titel
Männer in Wintermänteln im Verlag Das Arsenal, Berlin.