Ein Gespräch mit Peter O. Chotjewitz über den Protagonisten seines neuen Romans
In diesem Herbst erscheint im Berliner Verbrecher Verlag, in dem bereits die Romane Urlaub auf dem Lande und Saumlos (2004) sowie Fast letzte Erzählungen (2007) vorliegen, sein neuestes Buch Mein Freund Klaus über den bekannten Justizkritiker und Rechtsanwalt Klaus Croissant, der 2002 verstarb. Peter O. Chotjewitz, Jahrgang 1934, ebenfalls Jurist, ist seit 1965 als Schriftsteller tätig, außerdem als Übersetzer der Werke von Dario Fo und anderen Italienern. Seit 1995 lebt Chotjewitz in Stuttgart, im Jahr 2000 erhielt er den Stuttgarter Literaturpreis. Zu seinen zeitgschichtlichen Büchern gehören die Romane Die Herren des Morgengrauens (1978, Neuauflage 1997) und Das Wespennest (1999).
Dein neues Buch Mein Freund Klaus
wird am 28. September im Rahmen der Veranstaltungsreihe zum
Deutschen Herbst im Stuttgarter Schauspielhaus vorgestellt. Hattest
du den Jahrestag im Blick, als du den Plan dazu gefasst hast?
Nein,
ich hatte schon 2004 die ersten Recherchen zu dem Buch gemacht. Der
Verbrecher Verlag wollte in diesem Jahr Die Herren des
Morgengrauens neu herausbringen, aber die Rechte liegen bei
Rotbuch, der neue Eigentümer wollte sie nicht herausrücken und hat
jetzt für die letzten Exemplare den Preis heruntergesetzt. Die
„Verbrecher“ sagten dann: Schreib was Neues, und ich erzählte
von der Sache über Klaus Croissant. Ich war mit der Recherche schon
fertig und brauchte das Material nur noch auszuwerten.
Das Buch nennt sich Roman und liest sich auch so
spannend, bildet aber als Biografie ein ganzes Leben ab …
Das
war es, was mich an dem Fall interessiert hat, schon vor den
Recherchen. So wie wir das Thema RAF in den letzten Monaten serviert
bekommen, erhalten wir ja immer nur einen Ausschnitt aus den
Biografien und der Zeitgeschichte, es klingt fast so, als fiele
irgendwann 1969 in Folge einer Kaufhausbrandstiftung und 1970 in
Folge einer Gefangenenbefreiung ein Ereignis geschichtslos vom
Himmel. Es gibt zwar ein paar Versuche, die Vorgeschichte der
Protagonisten zu beschreiben, aber es geht dann doch nur um jene
Fakten – Elternhaus, Studium, Interessen, Beziehungen –, die
einen vermeintlich schlüssigen Zusammenhang zu den Ereignissen der
siebziger Jahre ergeben. Aber so kann man Biografien nicht
reduzieren. Selbst ein derart ausführliches Buch wie das von
Bettina Röhl über ihre Mutter Ulrike Meinhof liest man von der
ersten Zeile an so, dass sie erstens als ein hassenswerter Mensch
erscheint und zweitens alles auf die RAF zuläuft. Ich dachte mir,
wenn jemand 1931 geboren ist, hat er doch zunächst einmal die
vierziger und fünfziger Jahre erlebt, deshalb bilden in meinem Buch
nur etwa zwei Fünftel die Jahre von 1969 bis 1980 ab. Was mir beim
Schreiben mehr noch als beim Recherchieren aufgefallen war, ist, wie
stark dieses Buch in Stuttgart spielt. Was Stuttgart für eine
interessante politische Geschichte hat, war mir vorher gar nicht so
klar.
Das Auffälligste gleich zu Beginn des Buches ist, wie
die Recherche offengelegt wird: man erfährt, wer was erzählt.
Ja,
das war mir sehr wichtig, ich habe sogar die Klarnamen verwendet. Im
allgemeinen stört es einen ja nicht, das nicht nur Romane, sondern
auch Sachbücher immer so daherkommen, als wäre es so gewesen. Das
kann man so machen, weil ja jeder weiß, dass selbst
wissenschaftliche Bücher eine Interpretation mehr oder weniger
gesicherter Annahmen darstellen. In diesem Fall, bei Klaus
Croissant, hatte ich am Anfang die Artikel aus dem Spiegel,
die Darstellungen im Fernsehen und anderer fragwürdiger
Überlieferungen, und es ist ganz eindeutig, dass da eine sehr
einseitige Betrachtungsweise überwiegt. Tenor: Croissant stamme aus
kleinen Verhältnissen, sei ein Emporkömmling, unpolitisch, bei der
FDP gewesen, ein Mitläufer und Frauenheld, vielleicht ein
Lifestyle-Typ. Dann begegnet er Leuten wie Andreas Baader oder
Gudrun Ensslin oder Ulrike Meinhof und wird plötzlich, weil er so
weich und schwach ist, umgedreht und zum Werkzeug von Verbrechern.
Das ist die gängige Darstellung, die kann man in der Tat vertreten,
wenn man bestimmte Zeugen fragt. Aber man kann natürlich auch mit
anderen Leuten sprechen, dann kriegt man ein völlig anderes Bild.
Ich dachte mir, in einem solchen Fall ist es besonders wichtig zu zeigen, dass die beschreibbare Oberfläche des Menschen immer das Ergebnis von Beobachtungen und Meinungen und Wahrnehmungen ist. Deshalb war es für mich bald klar, dass ich ein Buch über Wahrnehmungen schreiben muss und nicht über eine Person.
„Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß“, steht
als Zwischentitel an einer Stelle, ein Zitat nach dem Titel eines
Godard-Films …
Das ist genau der Punkt. Es hat mich
sehr fasziniert, im Zuge der Recherchen festzustellen, dass es
tatsächlich viele Leute gibt, die über ihn reden, ohne etwas über
ihn zu wissen, sie haben im Spiegel oder in anderen
Zeitungen etwas gelesen und schildern ihn, als sei er so. Oder es
erzählen etliche Menschen dasselbe über ihn, als ob sie sich bis
in die Formulierungen hinein abgesprochen hätten, dabei haben sie
wohl alle denselben Artikel gelesen und bilden sich jetzt ein, sie
hätten diesen Mann gekannt.
Du spielst im Titel ja gerade auch mit der persönlichen
Nähe: mein Freund Klaus …
Ich war mir lange nicht
sicher, ob ich es so mit den Klarnamen machen soll, die Informanten
genau mit Beruf und Wohnort anzugeben. Zuerst hatte ich vor, alles
zu verschlüsseln, auch Klaus, aber irgendwann merkte ich, dass ich
keine erfundene Figur zum Gegenstand des Romans machen wollte.
Wenn das Buch zum großen Teil in Stuttgart spielt, werden die Stuttgarter es lesen und viele Figuren wiedererkennen.
Ich fand, die Verantwortung gegenüber dem Stoff, die man als Autor ja immer haben sollte, ginge für mich verloren, wenn ich ihn verschlüsselte, habe aber lange Zeit nicht geglaubt, dass es geht, so eng an der Realität zu bleiben und gleichzeitig wesentliche Möglichkeiten des Romans auszunutzen. Als der Verbrecher Verlag zusagte, das Buch zu machen, musste ich mich über Nacht entscheiden und beschloss, ich schreibe als Detektiv, der hinter der Figur als Rechercheur herreist, mal die Leute befragt, mal liest, mal sich ein Haus anschaut, mal reflektiert. Der Autor bewegt sich auf verschiedenen Ebenen, es geht sogar so weit, dass er manchmal phantasiert, Selbstgespräche führt. An einer Stelle blickt er hinter sich her, wie er weggeht.
Obwohl es ein sozusagen authentischer Roman ist, habe ich doch in einigen Fällen, in denen ich dachte, es sei den Leuten nicht recht, Namen weggelassen oder verändert, auch Fakten manipuliert, an denen jemand zu erkennen gewesen wäre. Zum Beispiel bei seiner Geliebten, da ging es mir darum zu zeigen, dass Croissant in seinen Beziehungen nicht auf Weltanschauliches fixiert war, sondern dass die Frau ihm einfach gefallen hat – übrigens fiel mir auf, dass die Bourgeoisie im Stuttgart der fünfziger und sechziger Jahre ziemlich libertär gewesen ist.
Vermutlich gefällt es nicht allen, so unverstellt im
Roman vorzukommen. Haben denn Leute abgelehnt, mit dir zu reden?
Am
drastischsten die Witwe. Ich schrieb ihr, dass ich über Klaus einen
Roman schreiben würde, und sie wollte mir das verbieten. Natürlich
weiß jeder, dass man so etwas nicht verbieten kann. Später habe
ich von mehreren Seiten gehört, dass man mit Rücksicht auf zwei
junge Frauen nicht wollte, dass ich in der Sache stochere, diese
jedoch hatten gar nichts dagegen, mit mir telefonisch und brieflich
zu kommunizieren. Geschrieben habe ich dieses Buch wegen der
unterschiedlichen Wahrnehmungen. Mich hat eigentlich die Recherche
mehr interessiert als das Ergebnis.
Trotzdem ist es kein Zufall, dass du Klaus Croissant als
Sujet gewählt hast ...
Naja, ich hatte in den letzten
acht Jahren ziemlich alte Themen, Hypathia, Macchiavelli und
Leonardo, und war seit ein paar Jahren auf der Suche nach einem
zeitgeschichtlichen Thema. Es muss ja immer etwas mit der eigenen
Biografie zu tun haben, und man muss sich, um einen Zugang zu
finden, auch mit einem Stoff schon beschäftigt haben. Den Klaus
kannte ich seit 1968, wir hatten uns im Club Voltaire in Stuttgart
kennengelernt, es war also eine relativ lange Bekanntschaft, und was
mich an ihm gereizt hat, sind die Brüche. Man schreibt als
Romancier ja am liebsten nicht über Geradliniges, und Klaus ist
eine Figur, die immer wieder eine Drehung macht, mindestens drei
skandalöse Drehungen: die erste, als er sich aus dem
gutbürgerlichen Milieu zu einem Bohemien entwickelt, dann die
Drehunh zum politischen Buhmann und schließlich die dritte, als er
die geheimdienstliche Agententätigkeit für die DDR beginnt. Das
finde ich spannend, und es gibt etwas für mich Unbegreifliches,
gerade weil ich ihn so gut kannte: Wie kommt es, dass sich jemand
wie François Mitterand persönlich dafür einsetzte, Croissant in
Frankreich politisches Asyl zu gewähren? Oder, genauso
überraschend, dass Bruno Kreisky sich hinter den Kulissen dafür
einsetzte, ihn in Österreich aufzunehmen? Oder auch sein
Freundeskreis, die Frauen, gutbürgerliche, verheiratete, etwas
mütterliche Frauen, die ihn gewissermaßen unter ihre Fittiche
nahmen. Solche Facetten bedeuten, dass die Figur etwas haben musste,
was ich selber nie bemerkt hatte.
Die Ratlosigkeit im Bürgertum angesichts der Randständigkeit einer Person, dieses Phänomen hat mich sehr fasziniert, die Bourgoisie, die nicht sieht, dass das Schreckliche immer ein Teil von ihr ist und aus ihr heraus kriecht, ob das nun der Faschismus ist oder der linksradikale Widerstand.
Hast du denn, nur wenige Jahre jünger, also fast aus
derselben Generation, den Wunsch gehabt zu erzählen, wie alles
anfing? Den Background der bundesrepublikanischen Geschichte, die
Enge der 1960er Jahre zu beleuchten?
Den Wunsch hatte
ich natürlich, und Klaus eignete sich dafür besonders, weil er
schon immer ein Außenseiter war, ein Goldkind. Er hat sich immer
mit Dingen beschäftigt, von denen die anderen keine Ahnung hatten,
gründete einen Jazzclub in Heidelberg, als die meisten noch
dachten, Glenn Miller wäre Jazz. Er las mit sechzehn Musils Mann
ohne Eigenschaften, er war frankophil, als für die meisten
Deutschen der Franzose noch der Franzmann war, er hat schon als
Student und junger Rechtsanwalt in Stuttgart immer gegen alle
Konventionen gelebt, war bekennender Atheist, ein Bohemien, nie
verheiratet, hat immer eine Geliebte gehabt oder sogar zwei. Die
Enge hat ihn nicht bedrängt, denn er war jemand, der sich den
Normen der Spießer und Reaktionäre gerade nicht unterworfen hat.
Er eignet sich nicht dazu, den 68er Bruch zu erklären, er ist
eigentlich auch kein 68er, vielleicht weil er zu alt war, und den
Faschismus hatte er im Elternhaus in Gestalt eines älteren
Schwagers bekämpft. Mir hat als Erklärung immer am meisten
eingeleuchtet, dass er sich in einer jakobinischen Tradition sah und
als Jurist eine rechtsstaatliche Fixierung hatte. Schon relativ früh
gibt es Hinweise auf einen Praxisschock, was, solange er Zivilrecht
oder Scheidungsrecht machte, keine solche Rolle spielte, aber dieser
Schock kam dann zwangsläufig, als er sich im linken Milieu bewegte,
im Club Voltaire, bei der Widmerin, bei der Demokratischen Linken um
Eugen Eberle, Fritz Lamm und Willy Hoss.
Die jungen Leute brauchten einen Anwalt in Rauschgiftsachen oder jemand sollte wegen einer Schülerzeitung vom Gymnasium fliegen. Es gab den Skandal wegen der Studenten an der Kunstakademie, Sieger Ragg, Ulrich Bernhardt, oder jemand wollte keinen Wehrdienst leisten. Da fragte man eben den Croissant. Man kannte ihn von Parties, er war Anwalt und sympathisch, ein Liberaler und eloquent, und wenn man kein Geld hatte, übernahm er das Mandat umsonst. Auf dieser Schiene ist er dann ärgerlich geworden. Er merkte plötzlich, dass die Strafrichter und Staatsanwälte, denen er nun als Rechtsanwalt in politischen Strafsachen gegenüberstand, anders konditioniert waren als die gemütlichen, mit denen man es in Zivilsachen zu tun hatte. Da zeigt die Justiz ihr repressives Gesicht, und dann kam 1971 der Fall von Carmen Roll, diese Sache scheint ihn traumatisiert zu haben. Die Polizisten hatten sie zu erkennungsdienstlichen Zwecken auf den gynäkologischen Stuhl gefesselt und narkotisiert, das hat Croissant sehr empört. Er hat Strafanzeige gegen die Polizei gestellt und bekam dann seinerseits ein Strafverfahren wegen Beleidigung angehämgt, weil er sich den Fauxpas erlaubt und gesagt hatte, so etwas hätte noch nicht mal die Gestapo gemacht.
Innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten hatte er einen Ruf in der linken Szene, man ging nach Stuttgart zu Croissant und er hat sich mit jedem Rechtsbruch, der ihm bekannt wurde, mehr aufgelehnt und hat – obwohl er tatsächlich nie Gruppen wie die RAF begünstigt hat –, in den Gerichtsverhandlungen schwer auf den Putz gehauen und sich mit Interviews und Pressekonferenzen unbeliebt gemacht.
Ich würde ihn einen Justizkritiker nennen, mit einer starken, gegen die Bundesrepublik gerichteten Tendenz und einer Liebe zur DDR. Leute wie Croissant sind ja auch Illusionisten. Hätte er sich nicht so viele Illusionen über den Rechtsstaat in der BRD gemacht, dann wäre er über die Rechtsverletzungen nicht so sauer gewesen und so furchtbar enttäuscht. Auf sich selbst hat er nie Rücksicht genommen, erwar leichtsinnig, ausgesprochen furchtlos. Deshalb war er ja auch so angreifbar. Statt Naivität sehe ich eher eine Art Radikalität bei ihm, eine Überzeugung von „wat mutt dat mutt“.
Wenn nun auf dem Titel steht "Mein Freund
Klaus", ist das fürs Marketing oder würdest du ihn noch immer
als Freund bezeichnen?
Richtig als Freund wie Manfred
Esser und Helmut Mader hätte ich ihn nie bezeichnet, dazu war
unsere Beziehung nicht eng genug, außerdem gehören wir beide einer
Generation an, die nicht sonderlich freundschaftsfähig ist. Es gibt
Leute die wir mögen, die uns interessieren, die man trifft, aber in
dem Begriff Freundschaft steckt ja auch ein Moment der Zärtlichkeit,
Erotik, etwas Irrationales, dazu sind wir beide nicht die Typen.
„Mein Freund“ muss man hier so interpretieren, dass er jemand
ist, dem ich freundlich gesonnen bin.
Die Fragen stellte Irene Ferchl.
Zum Weiterlesen:
Mein Freund Klaus. Roman. Verbrecher Verlag, Berlin 2007. 220 Seiten, 22 Euro
Die Herren des Morgengrauens. Romanfragment. Rotbuch Verlag, Hamburg 1997. 240 Seiten, 9,95 Euro
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Das Staatstheater Stuttgart veranstaltet im September, Oktober und November drei Projektwochen zum Deutschen Herbst 1977 unter dem Titel „Endstation Stammheim“ mit Uraufführungen, u.a. von „Mogadischu Fensterplatz“ nach dem Roman von F. C. Delius, Lesungen, Diskussionen, Ausstellungen etc. Im Schauspielhaus wird am 28. 9. auch der Roman von Peter O. Chotjewitz vorgestellt. Infos unter www.staatstheater-stuttgart.de.
Im Rathaus findet am 27. und 28. September das diesjährige „Stuttgarter Symposion“ über „Die Opfer der RAF“ statt, zu dem die Söhne von Hanns Martin Schleyer und Siegfried Buback, Journalisten wie Werner Birkenmaier, Autoren wie Kurt Oesterle und Wissenschaftler wie Horst-Eberhard Richter eingeladen sind.