Über Marie Luise Kaschnitz
Von Ingrid Mylo
I.
Ihre Tagebücher hören, irgendwann im Mai 1966, mit dem
Wort „selig“ auf. Was für ein Schlusspunkt. Was für eine
Irreführung. Denn es bedeutet eben nicht: still vor Glück und
Jubel und rosafarbene Verheißung, sondern: harsche Kritik. Der
Satz, an dessen Ende dieses "selig" steht, ist eine
Brandmarkung der Blödheit und liest sich so: „... aber das
Publikum ist, wie immer, wenn es beschimpft wird, selig“. Das
macht sie oft, die Kaschnitz, das beherrscht sie: schöne Worte an
Stellen verwenden, an denen sie zu Sprengkapseln werden. Im
Zusammenhang mit dem davor Geschriebenen verkehren sie sich in ihr
Gegenteil und richten zielsicher den gewünschten Schaden an. Es ist
ein Geruch aus Lilien und Leichen, der aus den Seiten steigt.
II.
Sie schaut hin, ganz genau, sieht die Schwächen, die
Fehler, die Krampfadern an den dicken Beinen der Frau. Die
blutunterlaufenen Augen des Fischhändlers, der an Lungenkrebs
stirbt. Schaut hin: ohne Mitleid, ohne Erbarmen, schaut hin und
deckt die Defekte auf. Spart nichts aus: nicht das Blut in den
Raupenspuren des Traktors, nicht den eingedrückten Brustkasten des
jungen Knechts, nicht den Schaum, der „ihm in roten Flocken vor
dem Mund“ steht. Oder in der Geschichte „Christine“ der Mord
an der Gartentür und das Paar, das drinnen im Zimmer steht und
zusieht: der Mann, die Frau. Er, der Anstalten macht zu helfen, sie,
die ihn hindert, aus Angst um die eigene Familie, „denk an die
Kinder“, er, der sich hindern lässt. Also geschieht es, vor ihren
Augen quetscht der Mörder das kreischende Leben aus der Kehle der
Siebenjährigen, vor ihrem sicheren Haus, und die vor Kälte blauen
Hände der Kleinen klammern sich um die Gitterstäbe ihres
geschlossenen Gartentors.
III.
Was aber auch und immer wieder in ihren Geschichten
vorkommt, in ihren Gedichten, Aufzeichnungen und
Tagebucheintragungen, sind Pflanzen, Bäume, Tiere. Die Natur in
ihren vielfältigen Erscheinungsformen. Eine ganze Geschichte,
„Genug, vorbei“, über das Sterben einer Ulme, detailreiche
Beschreibungen in Engelsbrücke über einen Schmetterling auf
ihrer Hand, über eine Gloxinie, die sie geschenkt bekam, über
Samenkörner und das, was sie in sich tragen. Überall Blumen und
blühende Sträucher: Geranien, Oleander, Mimosen, Margeriten,
Lupinen, Federnelken, Fuchsien, Zistrosen, und nebn den vertrauten
die Namen, die längst nicht mehr geläufig sind und klingen wie
Prinzessinnen in exotischen Gewändern: Salvien, Gelsominen,
Spiräen, Zinnien und Zyklamen.
Auf ihrer tagelangen Schiffsreise nach Brasilien hat Kaschnitz sich über die „sterile Atmosphäre an Bord“ ausgelassen, das Anorganische, in dem das Hirn taub wird und abstirbt. Damit das Denken keimt und Einfälle treibt, ist Natur vonnöten.
IV.
Sie stellt hohe Forderungen an sich, verlangt sich
einiges ab. „Halte nicht ein bei der Schmerzgrenze“, heißt es
in ihrem Gedicht „Bericht vom Neumagen“, „Halte nicht ein /
Geh ein Wort weiter / Einen Atemzug / Noch über dich hinaus“. Und
hat sich doch im Verdacht, das genau nicht zu tun. „Das Äußerste,
das ist die Grenze, dahinter steht der Wahnsinn oder die
Verzweiflung, dahin wollte ich nicht“, schreibt sie in „Nicht
ans Äußerste“. Mit einem Gedicht, das immerhin erkennt sie und
gesteht es sich zu, mit einigen Zeilen Prosa, dringt sie hier und da
in diese „Todeslandschaft“ ein. Mehr geht nicht, um der
geistigen Gesundheit willen; ein dauerhafter Aufenthalt, und „Goyas
schwarze Vögel“ flögen „ungehindert zum Fenster herein“.
V.
Alfred Hitchcock hat einmal von einer Filmidee erzählt,
einer Szene, die ihm vorschwebte: eine Einstellung ohne Schnitt und
doppelten Boden. Man sieht ein Fließband, auf dem ein Auto
zusammengebaut wird. Schritt für Schritt, vom allerersten einzelnen
Teil bis schließlich zum kompletten Wagen, Stück für Stück, und
die ganze Zeit ist die Kamera dabei, man sieht, wie alles montiert
wird, wie die Frontscheibe eingesetzt wird, das Licht, der Motor,
bei jedem Detail ist man Zeuge. Und dann öffnet, als das Auto
fertig dasteht, einer die Fahrertür – und eine Leiche fällt
heraus.
So sind viele ihrer Geschichten zusammengefügt. Ein Satz, der nächste, noch einer, klar und deutlich, Sätze, die nichts verstecken, man ist bei allen dabei. Und doch ist am Ende etwas geschehen, das, obwohl alles benannt wird, so nicht dagestanden hat. Etwas hat sich in der Geschichte verbergen können, weil wir nicht genau hingeschaut haben, weil wir dachten, es sei nur ein Mantel, da über dem Stuhl: aber es war eine Erinnerung, eine Warnung, ein Gespenst.
VI.
Was ist das, das „eigentliche Leben“? Das, was man
wollte, einst und ursprünglich, aber nicht bekam? Oder das, was man
erhielt, stattdessen, und jetzt muss man sehen, wie man mit dem
Ersatz zurechtkommt? Das Feuer im Kamin ist künstlich, die beiden
Möpse auf dem Teppich sind ausgestopft, die Äpfel mit Fäden an
den Baum gebunden, der nicht trägt. Sie sind oft mit den falschen
Menschen zusammen, die Figuren in den Kaschnitz-Geschichten, weil
der, den sie gemeint haben, verschwunden ist oder Verrat verübt hat
an ihnen. Sie richten sich ein, trotzdem, und machen sich vor, dass
es Liebe ist, was haben sie denn für eine Wahl? Und dann, weil sie
so hartnäckig daran glauben, ist es tatsächlich wahr, aber da ist
es zu spät: denn es gibt so etwas wie Schicksal, und den
Zusammenstoß mit dem anderen Auto überlebt der inzwischen Geliebte
nicht. Schuld und Angst, darauf läuft es hinaus, und auf etwas, das
die Menschen hindert, das geplante Leben zu beginnen: etwas Uraltes,
Müdes, das um die Sinnlosigkeit weiß und sich dem Schweigen
ergibt. Was Fluch zu sein scheint und Furcht erzeugt, als der Vogel
Rock ins Zimmer fliegt und die Wohnung unheimlich macht,
unbehausbar, stellt sich später, zu spät, auch diesmal, als Chance
heraus, die man nicht wahrgenommen hat: und man weint.
VII.
Wenn sie liest, aus ihren Werken, ihre Stimme: strikt
klingt sie, strafend fast, eindringlich unbetont. Kurz und bündig
liefert sie, ohne viel Federlesen, ihre Sätze ab, stellt sie,
unverrückbar, vor die Zuhörer hin. Aufrecht ragende Worte, man
kommt nicht um sie herum.
An anderer Stelle der Singsang ihrer Aufzählungen, das stetige Auf- und Abschwellen, begütigend, ohne wirklich zu beruhigen, Kinderlied, Litanei. Gestus, als wickele sie Verbände ab, Klang um Klang: und darunter liegt manchmal die Wunde, unverheilt, offen und bloß, und manchmal ist da nichts.
VIII.
Sie hieß früher, bei vielen, "Tante Luise",
warum? Weil sie, im Tagebuch gleich mehrfach erwähnt, sich die
Haare herrichten ließ beim Friseur? Die Kurzgeschichten können
nicht gemeint gewesen sein, denn die sind alles andere als
tantenhaft, sind hart und fordernd und entschlossen und gehen in
ihrer Schroffheit, ihrer schneidenden Kühnheit viel weiter als das
heute so übliche halbseidene Geschreibsel, das allen möglichen
Unzulänglichkeiten der erwarteten Käuferschicht von vornherein
Rechnung trägt und liebedienerisch um Leser bettelt. Tante Luise:
eher schon ihre Aufzeichnungen, die haben manchmal etwas
vergleichsweise Vermittelndes, Versöhnliches, sind gefällige
Betrachtung der kleineren Dinge, aus denen sie sehr wohl etwas
Eigenes fertigt, und kunstvoll fertigt, das aber mehr in Richtung
Schmuck geht und ohne Gefahr ist.
IX.
Und immer der Mond. Oft, so oft, häufiger als die
Sonne. Wintermondstrahl, Mondschwärmer, Mond, immer wieder.
Mondsüchtig, und das heißt verstiegen im Hirn und wortwörtlich
verstiegen: hinaus aufs Dach, den Abgrund zu beiden Seiten. Mond,
„Schlafstörer und Liebeswecker“, ein Schälchen Pudding, „blass
wie Mondschein“, Mondkühle nach Gesprächen über den Selbstmord,
an der mondbeschienenen Stallwand werden Männer erschossen im
Krieg. Und wenn man hochschaut zum Himmel und das Gesicht des Mannes
im Mond sieht, sieht man die Seele der weissagenden Sibylle.
X.
So oft wie "Mond" fällt ein anderes Wort:
"schön". An diesen Stellen glänzt die Geschichte, hebt
sich ab von den Schrecken ringsum, von den Schrunden, den düsteren
Kümmernissen, von dem Verhängnis. Ein einzelnes Wort, ein helles
Aufhoffen, eine Glasscherbe, von der Sonne getroffen: schön.
XI.
„Eines Mittags, Mitte Juni“ ist der Titel einer
ihrer Geschichten, und eines Mittags, Mitte Juni, taucht, während
die Ich-Erzählerin, die Kaschnitz heißt, abwesend ist, Urlaub
macht in Italien, eine Frau in dem Haus auf, in dem die
Schriftstellerin sonst wohnt. Eine Fremde, die für Zeitschriften
wirbt, eine Ausländerin, die den Mietern vom Tod erzählt, die
sagt, die Kaschnitz sei gestorben, sei tot, weil sie niemanden mehr
habe auf dieser Welt. Und jetzt fordert sie deren Schlüssel, will
deren Eigentum, deren Besitz, geht erst, als jemand sagt: Polizei.
Als Kaschnitz, zurück aus Italien, Wochen später davon hört, ist
sie empört, unruhig auch, dringt auf Aufklärung, will verstehen.
Sie findet an jenem zurückliegenden Tag, einem siebzehnten, in
ihrem Notizbuch die Worte „Trinken, Ertrinken, Orfeo“, und
findet die Erinnerung an den Augenblick draußen im Meer, als sie
bereit war aufzugeben, aufzuhören, ganz und gar. Der Mann tot,
„alles verloren“, und sie: abgekämpft, müde, wie einfach wäre
es, sich sinken zu lassen, tief und für immer. Nur das vermeintlich
vernommene, ferne Flötenspiel ihrer Tochter, die in der Geschichte
Costanza heißt wie im Leben, hält sie zurück, lockt sie zurück
an den Strand.
Ihr wirklicher Tod am 10. Oktober 1974, Jahre nach dieser Geschichte: sie hat sich, lautet der Bericht, zu lange im Wasser aufgehalten, so lange, dass sie davon krank wurde und starb, und es spielte, wird gemunkelt, womöglich eine Muschelvergiftung mit hinein. Ihr Tod, wie sie es gewusst hat, gewollt hat, kam aus dem Meer.
Zum Weiterlesen:
Ferngespräche. Erzählungen. Insel Verlag, Frankfurt a.
M. 1966. 281 Seiten, 17,80 Euro (TB 10 Euro)
Orte.
Aufzeichnungen. Insel TB, Frankfurt a. M. 2001. 313 Seiten, 8,50
Euro
Wohin denn ich. Aufzeichnungen. Claassen, Hamburg
1992. 235 Seiten, 17 Euro
Ein Wort weiter. Gedichte.
Claassen, Hamburg 1965 (antiquarisch)
Ingrid Mylo, Jahrgang 1955, lebt als Schriftstellerin in Frankfurt a. M. und Kassel. Im April erscheinen von ihr kürzere und längere Prosatexte unter dem Titel Männer in Wintermänteln im Verlag Das Arsenal, Berlin.