Von Michael Bienert
Sie liest nicht, sie schreibt. Die Frau im Renaissancegewand schmückt das Exlibris zweier gelehrter Schwestern, der Romanistin Elise und der Anglistin Helene Richter. Elise, die Jüngere, war die erste Frau, die sich an der Wiener Universität habilitierte; seit 1921 lehrte sie dort als außerordentliche Professorin romanische Literaturwissenschaft. Als die Nationalsozialisten 1938 in Österreich einmarschierten, endete Elise Richters wissenschaftliche Karriere abrupt: wegen ihrer jüdischen Herkunft wurde zwangspensioniert.
Die Privatbibliothek beider Schwestern umfasste zu diesem
Zeitpunkt etwa 8000 Bücher, Notenbände und Handschriften. Die
Repressionen gegen die Wiener Juden brachten die Eigentümerinnen in
finanzielle Not und sie sahen keinen anderen Weg, als ihre
Bibliothek nach und nach zu veräußern.
Der Leiter
der Kölner Universitäts- und Stadtbibliothek Hermann Corsten
reiste im September 1941 nach Wien, um günstig Fachliteratur
einzukaufen. Gleichzeitig wandte sich Elise Richter, um ihre
Sammlung schätzen zu lassen, an Robert Teichl, den
stellvertretenden Leiter der Österreichischen Nationalbibliothek in
Wien. Dessen Chef Paul Heigl schaltete sich ein und riet dem
Kollegen aus Köln, die Bücher einfach von der Gestapo
beschlagnahmen zu lassen.
Corsten versuchte trotzdem noch, den Bücherschatz käuflich für
Köln zu erwerben. Erst als Elise Richter Anfang 1942 vom
Kaufvertrag zurücktreten wollte, fragte er beim Kollegen Teichl an,
ob dieser es für richtig halte, "die Sache radikal zur
Entscheidung zu bringen". Teichls briefliche Antwort: "Das
Verhalten beider Jüdinnen entspricht durchaus ihrer Rasse und
verdient schärfstes Vorgehen." Wenig später reisten 3000
Bände Fachliteratur in Kisten nach Köln. Ob dafür jemals Geld an
die Eigentümerinnen floss, ist mehr als zweifelhaft. Noch im selben
Jahr wurden sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert,
wo sie umkamen.
Einen Teil ihrer in Wien
verbliebenen Bücher kaufte die Nationalbibliothek einer Bekannten
ab, die Elise Richter vor ihrer Deportation als Universalerbin
eingesetzt hatte. Diese Transaktion war damals legal, aber aus
heutiger Sicht keineswegs rechtens. Juden, die in der Nazizeit ihr
Hab und Gut verkauften, handelten meist unter erpresserischem Druck
des NS-Staates. Davon profitierten neben Wirtschaftsunternehmen und
Museen auch Bibliotheken, sie waren, wie der Fall zeigt, nicht bloß
passive Nutznießer. Gierige Bibliothekare wurden auch zu Tätern.
Das derart erworbene Raubgut lagert in vielen Fällen noch unerkannt
in den Magazinen öffentlicher Sammlungen.
In den letzten Monaten wurde die Öffentlichkeit durch
spektakuläre Rückgaben aus Museumsbeständen aufgeschreckt. Ein
Gemälde Ernst Ludwig Kirchners aus dem Berliner Brücke-Museum
wurde in New York für 38 Millionen Euro versteigert. Es gehörte
den jüdischen Sammlern Alfred und Thekla Hess, so wie "Die
kleinen blauen Pferde" von Franz Marc aus der Stuttgarter
Staatsgalerie – auch dort bangt man jetzt, denn im Jahr 1998 hat
das sogenannte "Washingtoner Abkommen" zur Restitution von
Kulturgütern die Beweislast umgekehrt: Bis dahin mussten die
Naziopfer nachweisen, dass sie beraubt worden waren, was oft
unmöglich war. Nun müssen die heutigen Besitzer belegen, dass der
ehemals jüdische Besitz rechtmäßig in ihre Hände gelangt ist; im
Zweifelsfall werden die Werke an die Vorbesitzer, ihre Erben oder
Treuhänder übergeben. Findige Anwälte durchforsten seither die
öffentlichen Sammlungen nach Werken, deren Verkauf auf dem
Kunstmarkt schnell Millionenbeträge einbringen kann.
Bücher
oder Handschriften erzielen bei weitem nicht so hohe Preise wie
Gemälde aus bedeutenden Museen, deshalb scheint die
Restitutionsproblematik die Bibliotheken weniger hart zu treffen.
Doch es geht nicht um Einzelstücke, sondern um Hunderttausende
ungeklärter Bücherschicksale, wie Recherchen in der
Österreichischen Nationalbibliothek ergaben. Sie wurde dazu von
einem 1998 im österreichischen Parlament einstimmig verabschiedeten
Gesetz gezwungen, das die Bundesmuseen und Sammlungen verpflichtete,
ihre Erwerbungen aus der Nazizeit gründlicher als bisher zu
überprüfen.
Die Ende 2003 abgeschlossene "Generalautopsie" der Bestände, niedergelegt in einem Bericht von 3 000 Seiten, stufte 15 000 Bücher und 12 000 Sammlungsobjekte in der Nationalbibliothek als unrechtmäßigen Besitz ein, außerdem den 23 000 Positionen umfassenden Nachlass des in Auschwitz ermordeten Fotografen Raoul Korty. Anfang 2004 wurden die Recherche-Ergebnisse in einer Ausstellung im Prunksaal der Bibliothek präsentiert. Für diese Pionierarbeit erhalten die Herausgeber des Katalogs – Murray G. Hall, Christina Köstner und Margot Werner – am 25. Januar in Ludwigsburg den Antiquaria-Preis für Buchkultur.
Inzwischen haben Hall und Köstner ihre Erkenntnisse in einem
weiteren umfangreichen Werk mit über 600 Seiten und 1629
Anmerkungen ausgebreitet. Beim Lesen wird klar, dass die Wiener
Raubzüge in den Bibliotheken von oppositionellen Organisationen,
Flüchtlingen und KZ-Opfern nur einen Mosaikstein aus einem größeren
Verwertungszusammenhang darstellen. Etwa 500 000 Bände Raubgut
wurden zwischen 1938 und 1945 allein in der Österreichischen
Nationalbibliothek eingeliefert. Nur 15 000 Bücher erhielten damals
dort neue Signaturen, weil die Bibliothekare bei der Bearbeitung
dieses Bücherberges nicht nachkamen. Es florierte jedoch ein
schwunghafter Dubletten-Tauschhandel mit anderen Bibliotheken im
"Tausendjährigen Reich".
So schloss
beispielsweise die Deutsche Bibliothek in Leipzig Bestandslücken
mit Wiener Raubgut. Wertvolle Stücke wurden für die geplante
"Führerbibliothek" in Linz beiseite gelegt. Der Berliner
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ließ sich ebenfalls Bücher
des jüdischen Verlegers Gottfried Bermann Fischer von Wien nach
Berlin schicken: kostbare Bände aus dessen Goethe-Sammlung und
Erotica.
Alarmiert von den Wiener Forschungsergebnissen hat inzwischen auch die Berliner Staatsbibliothek, unterstützt vom Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte, die Aufarbeitung des NS-Erbes eingeleitet. Unter anderem soll eine Forschergruppe die genaue Arbeitsweise der so genannten "Reichstauschstelle" in Berlin klären. Sie versorgte Bibliotheken im ganzen Reich mit geraubten Büchern. Als im Zweiten Weltkrieg viele Büchereien zerbombt wurden, fiel ihr eine neue Aufgabe zu: Sie sollte Ersatz für die Kriegsverluste zur Verfügung stellen.
Eine besonders spektakuläre Beschaffungsaktion in Italien haben die Wiener Forscher rekonstruieren können, weil dort die Leitung der Österreichischen Nationalbibliothek federführend war. In der von der Wehrmacht besetzten Hafenstadt Triest wurden die dort beschlagnahmten Bücher in der Synagoge eingelagert. Fotos zeigen, wie die lose gestapelte Beute unter dem Thoraschrein auf den Abtransport wartete. Noch in den letzten Kriegsmonaten war geplant, rund 100 000 Bände aus der Synagoge nach Berlin zu schaffen, was allerdings fehlschlug.
Der Wiener Bibliothekar Ernst Trenkler, der in Triest wochenlang die Beute sortierte, wurde nach Kriegsende beauftragt, das noch in der Nationalbibliothek lagernde Raubgut an die Eigentümer zurückzugeben – soweit diese auffindbar waren. In den fünfziger Jahren breitete sich dann ein Mantel des Schweigens über die Machenschaften der Bibliothekare während der Nazizeit. Noch 1973 verfasste Trenkler eine Geschichte der Nationalbibliothek, in der er bestritt, dass je ein Mitarbeiter des Hauses aktiv in den NS-Bücherraub verstrickt gewesen sei. Auch ein Porträtfoto des glühenden Nazis Paul Heigl, des damaligen Bibliotheksdirektors, enthält das Werk. Das NSDAP-Parteiabzeichen an seiner Brust allerdings wurde für die offizielle Bibliotheksgeschichte einfach wegretuschiert.
Zum Weiterlesen:
Murray G. Hall / Christina Köstner / Margot Werner, Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit. Ausstellungskatalog 2004 (nur antiquarisch)
Murray G. Hall / Christina Köstner, "... allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern ...". Eine österreichische Institution in der NS-Zeit. Böhlau Verlag, Wien / Köln / Weimar 2006. 618 Seiten, 59 Euro
Michael Bienert schreibt für das Feuilleton der
Stuttgarter Zeitung und berichtet unter anderem vom Berliner
Kulturleben. Mehr unter http://www.text-der-stadt.de/.